Wenn Kooperation zur Pflicht wird: Es herrscht* Konsens.

Von wenigen installiert, von vielen weggewünscht, hält er sich bis jetzt wacker – würde es doch Konsens erfordern, ihn zu revidieren. Bevor es soweit kommen könnte, lohnt es sich, unsere Art der Entscheidungsfindung genauer zu untersuchen. Die hier eingebrachten Inputs sind eine Mischung aus Fachliteratur und Erfahrungen der UAG Konsens der AG Bildung in Zürich. 

Den Begriff des Konsens nutzen wir im Text so: Alle Mitglieder der Gruppe bringen ihre Bedürfnisse und Standpunkte klar zum Ausdruck, erkennen Gemeinsamkeiten und erarbeiten Lösungen für alle Bereiche, in denen Meinungsverschiedenheiten bestehen. Der erarbeitete Vorschlag wird von allen getragen, dh. von niemensch aktiv verhindert, also keine schwerwiegenden Einwände bestehen. 

Wir schreiben den 24. Februar 2019. Das blendende Gegenlicht der Sonne lässt den Plenarsaal der Kirchgemeinde Johannes mystisch wirken. Wir alle spüren, dass hier historisches geschehen wird. Geschehen muss, denn bis anhin hat das nationale Treffen wenig Konkretes gebracht – so zumindest die allgemeine Stimmung, wenn mensch sich unter den 250 anwesenden Klimastreikenden umhört. Drei Zeitungen und vier Filmteams dokumentieren alles und geben uns zu verstehen, dass die Welt zusieht.

Das jetzt startende Plenum ist das erste dieses Tages, das dritte des Treffens insgesamt. Die Erwartungen daran sind hoch, denn endlich, nachdem die Unterarbeitsgruppen brauchbare Vorschläge ausgetüftelt, die Arbeitsgruppen sie besprochen und konsensfähig geschliffen haben, nachdem alle ihre positiven und negativen Aspekte gesammelt und kommuniziert wurden, nachdem auch den letzten Teilnehmenden klar ist, dass die damit betrauten Personen sich lange den Kopf über die beste Lösung zerbrochen haben, nun endlich kann die vereinigte Klimastreikbewegung in der Schweiz unter Vertretung aller vier Landessprachen nach ihrem Konsens gefragt werden.

Für mich ist es das erste Mal, dass ich ein so grosses Plenum moderiere. Die Tage vorher habe ich vieles beobachtet, das nicht funktioniert hat, und hoffe, nicht alle Fehler zu wiederholen. Bevor wir beginnen, wird ein Eilantrag gestellt. «Wir würden für das nachfolgende Plenum gerne die hundertprozentige Zustimmung durch eine 90%-ige ersetzen.» Ich wiederhole den Antrag auf französisch. «Gibt es Fragen zu diesem Antrag?». Das Plenum murmelt, aber niemensch streckt auf. Ich höre mich sagen: «Besteht Konsens, dass wir unseren einstimmigen Konsens durch eine 90%-Mehrheit ersetzen?» Habe ich diese Frage genügend neutral formuliert? Darf ich als Moderator mitbestimmen? Ich würde diesen Antrag sofort ablehnen. Zum Glück kommt es nicht soweit, denn auf das Plenum ist Verlass: Viele Menschen verschränken die Hände. Antrag abgelehnt, es folgt der nächste. Ich werde unruhig, der Zeitplan ist straff. Eine Stimme: «Wir besprechen heute wichtige und vertrauliche Dinge. Die Medien sollen das Ergebnis erfahren, aber nicht die gesamte Diskussion. Ich beantrage, dass sie den Saal verlassen.» 

Dieser Antrag überrascht mich. Unser mehrstündiges Plenum soll also unter Ausschluss der Medien geschehen, obwohl wir selbst einen Live-Stream schicken? Ich gerate in Versuchung. Als Moderator kann ich jetzt beeinflussen, wie die Abstimmung ausgehen wird. Normalerweise sind die Spielregeln klar: Wir brauchen Konsens dafür, dass der Status Quo (Ist-Zustand) verändert werden darf. Herrscht kein Konsens, bleibt alles so, wie es war. Für unsere Bewegung heisst dies häufig: Es wurde noch keine Regelung definiert. Würde ich nun fragen: «Sind alle der Auffassung, dass die anwesenden Medienvertreter*innen den Saal jetzt verlassen müssen?», so hätten wir wenig Aussicht auf einen Konsens und die Medien hätten bleiben können – legitimiert durch den Dissens darüber, sie zum Gehen aufzufordern. Damit aber drängen sich zwei Probleme auf: Einerseits übergehen wir Individuen, die sich mit der Situation offensichtlich nicht wohlfühlen. Wenn das Plenum Rücksicht auf alle Teilnehmenden nimmt, darf dies nicht geschehen. Andererseits stellt sich die Frage, wer den Status Quo überhaupt definiert hat. In diesem Fall war es ein kleines Grüppchen von Organisierenden, das die Medien koordiniert und den Zugang – nach bestem Wissen und Gewissen – ermöglicht hat. Der Ist-Zustand ist somit nicht demokratisch legitimiert. Ich entschliesse mich deshalb dazu, das Plenum zu befragen: «Sind alle mit der Anwesenheit der Medienschaffenden einverstanden?». Es gibt vereinzelte Ablehnung. Mit Schweisstropfen auf der Stirn bitte ich die Medien, die Anweisung des Plenums zu beachten und den Saal zu verlassen. Danke für’s Verständnis.

Wir wenden uns dem geplanten Teil zu. Ich gebe mein Bestes, doch auch in diesem Plenum werden erstaunlich viele Punkte von erstaunlich wenigen Leuten abgelehnt. Aus Zeitgründen versuchen wir, die Plenumsdiskussion zu verhindern. Wir haben keine wirkliche Debatte. Die Ablehnungsgründe sind der zuständigen Arbeitsgruppe nach dem Plenum mitzuteilen. Viele sind enttäuscht, das Suchen nach Konsens entmutigt. Die Sonne ist weitergewandert und wir sitzen im Schatten. Bei vielen offenen Fragen haben wir uns zu keinem Vorschlag entscheiden können.

Die Voraussetzungen des Konsens’

Szenenwechsel in das vorherrschende Entscheidungssystem. Die halbdirekte Demokratie der Schweiz basiert auf dem Mehrheitsentscheid der stimmberechtigten Bevölkerung. Nicht stimmberechtigt sind Leute ohne Schweizer Pass (knapp 25% der hier lebenden Bevölkerung), Menschen unter 18 (20%) sowie nicht mündige Personen. Ein grosser Teil der Bevölkerung darf also nicht mitentscheiden. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern können wir dafür zumindest eigenständig Initiativen und Referneden einreichen und über deren Ausgang bestimmen. Alle Schweizer*innen erhalten so das Recht, “Ja” oder “Nein” zu einem ausformulierten Gesetzesvorschlag kundzutun. 

Um zu einem Urteil zu gelangen, informieren sich die Abstimmenden über die Medien; (die vierte Gewalt), über Werbung (die inoffizielle fünfte Gewalt) und über ihr Umfeld. Heute funktionieren Medien und Werbung sehr machtkonzentriert – wer Geld hat, bestimmt die öffentliche Wahrnehmung. Bei der Abstimmung selbst werden die Vorschläge der Mehrheit angenommen. Abstimmen bedeutet dabei zwangsläufig, dass es Gewinnende und Verlierende gibt. Angstschürende Argumente wie die Gefährdung der Arbeitsplatzsicherheit können nicht in progressive Vorschläge integriert werden, sondern werden als Gegensatz wahrgenommen. Die Bedenken der Minderheit werden ignoriert und sie wird dazu gezwungen, bei etwas mitzumachen, mit dem sie nicht einverstanden ist. Die Resignation der Massen ist eine naheliegende Konsequenz – die Stimmbeteiligung auf nationaler Ebene lag während der letzten vier Jahre zwischen 42.8% und 49.6%.

Den absoluten Grossteil der Entscheide treffen derweil gar nicht die Stimmenden selbst: Es ist in der repräsentativen Demokratie nicht vorgesehen, dass sich die Bevölkerung intensiv mit politischen Fragen auseinandersetzt. Wir geben unsere Macht an eine kleine Elite ab, die häufig grundlegend andere Interessen verfolgt. Sie wollen wiedergewählt werden – was in kurzfristigem Denken und Handeln resultiert. Auch begünstigt es populäre Vorlagen. Wichtige, aber komplexe Themen wie die Klimakrise werden vernachlässigt. Solange es unpopulär ist, von Konsumverzicht zu sprechen, wird auch kein*e Politiker*in Vorstösse in diese Richtung bringen, obwohl vielen bewusst ist, dass genau dies geschehen müsste.
Die vorherrschenden Machtkonzentrationen und Funktionsweisen der Entscheidungsfindung haben die missliche Lage unseres Planeten zu einem grossen Teil zu verantworten. Der Konsens zielt darauf ab, allen Menschen das Recht zur Gestaltung ihrer gemeinsamen Zukunft zuzusprechen.

Damit Konsens funktionieren kann, müssen von der beteiligten Menschengruppe jedoch gewisse Voraussetzungen angestrebt werden.  

Unumgänglich ist das Definieren von gemeinsamen Zielen. Erst dann kann sich jedes Gruppenmitglied sicher sein, dass alle in dieselbe Richtung steuern und es kann Vertrauen innerhalb der Gruppe entstehen. Ziele können sich ständig wandeln und weiterentwickeln, aber die aktuellen Ziele bilden die Basis für den anstehenden Konsensprozess. Für die gesamte Bewegung können das Dinge wie gemeinsame Visionen einer besseren Welt, netto.null bis 2030 oder eine nachhaltige Bewegung sein, für eine AG entsprechend konkreter, z.B. das Gestalten der medialen Wahrnehmung und die Bewusstseinserhöhung in der breiten Bevölkerung. Auch das Einlassen auf eine gemeinsame Wahrnehmung und Analyse der Realität ist entscheidend. Dabei muss die Wahrnehmung nicht für alle exakt gleich sein, sondern es müssen alle verschiedenen Perspektiven wahrgenommen und verstanden werden. Verwendete Begriffe im Vorfeld zu klären hilft, dass alle vom selben sprechen. 

Jede*r muss bereit sein, den Konsens wirklich finden zu wollen. Es ist unabdingbar, allen Teilnehmenden aufrichtig zuzuhören und offen zu sein für alternative Lösungen. Auch die eigene Position darf nur als eine unter vielen wahrgenommen werden. Anstelle von Überzeugungsarbeit ist Informationsarbeit wichtig: Erst wenn alle über alle relevanten Informationen verfügen, kann ein kreativer, breit gestützter Vorschlag entstehen, der nicht primär den Interessen einzelner, sondern der Gruppe dient. Aktuell haben nur ganz wenige Menschen diesen Überblick in unserer Bewegung, das ist fatal. Um gegenseitiges Vertrauen ermöglichen zu können, müssen wir offen über alle Interessen, Bedürfnisse und Gefühle sprechen. Wenn jemensch Angst hat, dass andere nicht mit offenen Karten spielen, wird dieser Mensch selbst defensiv und mistrausch werden. Misstrauen abzubauen und andere nicht als Konkurrent*innen wahrzunehmen ist also zentral.

Konsensfindung braucht Zeit. Erfahrungen in diesem Prozess werden uns helfen, schneller voranzukommen. Aber Zuhören, Argumente abwägen und gemeinsames Verstehen kann und darf nicht zu sehr beschleunigt werden. Umso wichtiger wird es sein, sich intelligent aufzuteilen: Es können beispielsweise mehrere Plenen parallel stattfinden (AG-Plenen), welche nur ihre grundsätzlichen Ziele im grossen Plenum zu legitimieren hätten, und ihre Arbeitsschritte selbst definieren. Dafür müssen wir einen gemeinsamen Konsens-Prozesses entwickeln, welcher für alle transparent ist und von allen getragen und weiterentwickelt werden kann. So ist klar, in welcher Gruppe welche Entscheidungen getroffen werden, formelle und informelle Hierarchien werden abgebaut und die Gruppen können sich leichter gegenseitig vertrauen. Auch für neue Mitglieder wird es so leichter zu verstehen, wie Entscheidungen gefällt werden.

Eine gute Plenumsmoderation muss die verschiedenen Bedürfnisse der Gruppe wahrnehmen, daraus Synthesen bilden und alle Teilnehmenden auf der Suche nach der gemeinsamen Lösung unterstützen. In grösseren Plenen macht es Sinn, diese Aufgaben auf verschiedene Personen zu verteilen und es ist wichtig, dass immer wieder andere Personen diese Rolle übernehmen und sich tief in den Konsensprozess einarbeiten.

Auch müssen wir am Verständnis von schwerwiegenden Einwänden arbeiten. Es ist zentral, dass eine einzelne Person das Recht hat, eine Gruppe zu blockieren, weil nur so sichergestellt werden kann, dass Minderheiten nicht übergangen werden. Aber es muss auch klar sein, dass es dabei nicht um persönliche Präferenzen gehen kann. Blockieren ist nur dann legitim, wenn die Gruppe ihre eigenen Ziele gefährdet oder wesentliche Chancen zur Zielerreichung nicht genutzt werden. Lässt sich eine Person (z.B. ein*e Erdöllobbiist*in) gar nicht auf diese gemeinsamen Ziele ein, hat sie auch kein Recht, am Entscheidungsfindungsprozess mitzuarbeiten, weil die gemeinsamen Ziele fehlen. Die Person wird sich nicht verstecken können und sich einer ehrlichen Diskussion stellen müssen, was bei einem Prozess mit qualifizierten Mehrheiten (selbst bei 99%) nicht gegeben wäre. Eine schleichende Unterwanderung und manipulatives Streuen von Misstrauen kann so präventiv verhindert werden.

Heute scheinen viele dieser Voraussetzungen höchstens teilweise erfüllt, wenn auch überall hoffnungsbringende Ansätze erkennbar sind. Gleichzeitig ist das Übernehmen der vorherrschenden politischen Prozesse nicht erfolgversprechend. Wir sollten also die Voraussetzungen für Konsens verbessern, insbesondere durch mehr Wissen, dem gemeinsamen Entwickeln von klaren Prozessen und bewusstem Vertrauensaufbau. So schaffen wir als Bewegung die Voraussetzung, nicht alle Schwächen der jetzigen Ordnung zu reproduzieren. Wir entwickeln jene Grundlagen, die eine nachhaltige und gerechtere Gesellschaft überhaupt erst möglich macht.

Patricia Kudrnac, Jann Kessler, Linus Stampfli und Fabian Dali

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