System ?!

Das zweite netto.null ist dem Thema „Systemwandel“ gewidmet. Doch warum sprechen wir vom System? Wie bringt es uns weiter, über Systeme zu reden und nachzudenken? Was ist überhaupt ein System? Ein erster Schritt auf der Suche nach Antworten.

Was ist überhaupt ein System?

Systeme sind sehr vielfältig: Es gibt soziale Systeme, Herrschaftssysteme, Wirtschaftssysteme und Rechtssysteme. Aber auch die Natur und ihre Organismen können als Systeme betrachtet werden. Selbst in ganz alltäglichen Handlungen können viele Systeme erkannt werden. 

Diese Vielfalt macht es schwierig, den Begriff klar zu definieren. Ich werde in diesem Artikel vor allem mit der Definition von Gernot Ernst arbeiten. Er definiert System folgendermassen:

„System bezeichnet einen ganzheitlichen Zusammenhang von Teilen, deren Beziehungen untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehungen erzeugt eine Systemgrenze, die System und Umwelt des Systems trennt.“ [1]

Ein System besteht also zum einen aus Teilen – auch Akteure oder Elemente genannt – und zum anderen aus Interaktionsbeziehungen, also den Verbindungen zwischen ihnen. Es ist eine Art Netzwerk. Ein System lässt sich dadurch von seiner Umwelt – allem anderen – unterscheiden, dass die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen des Systems zahlreicher und stärker sind, als die Verbindungen nach aussen. [2] Man kann dies gut an einem kleinen sozialen System veranschaulichen, zum Beispiel einer Familie. Die Personen sind die Akteure oder Elemente. Es sind vielleicht wenige, vielleicht mehr, aber sie kennen sich alle – die Beziehungen im System sind also quantitativ intensiver – und es verbindet sie neben guter Bekanntschaft auch noch Verwandtschaft – die Beziehungen haben eine andere Qualität. Systeme sind jedoch nicht abgeschlossene, isolierte Gefüge. Die Familienmitglieder haben Freund*innen und Bekannte ausserhalb des Systems und gehören gleichzeitig anderen Systemen an, wie zum Beispiel Freund*innenkreisen, einer Schulklasse oder einem Arbeitsteam. Das System kann sich auch verändern: Es ist möglich, dass ein Kind geboren wird und das System so ein Element hinzu gewinnt. Oder es kann ein älteres Familienmitglied sterben und das System so verlassen. Doch mit dem Bild des Netzwerkes können wir auch andere Phänomene verstehen: entfällt ein Element, das sehr viele Verbindungen hat und vor allem solche, die nicht in grosser Zahl vorhanden sind, kann sich das System entscheidend ändern. Stirbt zum Beispiel eine Urgrossmutter, die zwei Familienteile verband, die sonst nicht besonders viel Kontakt haben, kann diese Verbindung ganz verschwinden und so das System verändern. 

Ein wichtiges Konzept, um Systeme zu verstehen, ist die Idee der Rückkopplung. Viele Systeme bewegen sich immer um einen anziehenden Punkt – sie oszillieren um einen Attraktor – aber es kann auch plötzliche Veränderungen geben. Diese haben häufig mit Rückkopplung zu tun. Ich möchte Rückkopplungseffekte hier an einem Beispiel aus der Ökologie veranschaulichen: an der Population von Schafen (Beutetier) und Wölfen (Raubtier). Wenn es viele Schafe gibt, ist das Jagen für die Wölfe einfacher und es können mehr Tiere ernährt werden – die Wolfspopulation vermehrt sich. Mehr Beutetiere – mehr Raubtiere; oder verallgemeinert: mehr A – mehr B. Das ist eine positive Rückkopplung. Doch durch die Vermehrung der Wölfe gibt es mehr Tiere, die ernährt werden müssen und so wird immer mehr gejagt und die Schafspopulation wird kleiner. Mehr Raubtiere – weniger Beutetiere; mehr B – weniger A. Das ist eine negative Rückkopplung. Nun sind aber weniger Beutetiere vorhanden, wodurch die Jagd schwieriger wird. Mehr Raubtiere sterben an Hunger oder Schwäche. Die Raubtierpopulation nimmt ab, und so kann sich die Beutetierpopulation wieder erholen; weniger B, mehr A. Hier handelt es sich wieder um negative Rückkopplung. 

Neben solchen Schwankungen ist auch das plötzliche Bilden von Strukturen in Systemen möglich. Man nennt dieses Phänomen Emergenz. Die Veränderung wird dabei nicht von den Teilen des Systems angestrebt und lässt sich auch nicht erklären, wenn man nur die einzelnen Subjekte betrachtet. Das Paradebeispiel für Emergenz ist eine Revolution: Eine Gesellschaft mit einem System verändert sich scheinbar plötzlich so stark, dass sich neue Strukturen bilden. Doch zu einem alltäglicheren Beispiel: Eine Band spielt ein Konzert und es sind viele Zuhörer*innen anwesend. Am Schluss gibt es einen grossen, langen Applaus. Dabei gibt es Phasen, während derer alle gleichzeitig rhythmisch klatschen, dann klatschen wieder alle durcheinander. Das rhythmische Klatschen ist nicht von einer Person geführt, es wurde nicht angestrebt von einzelnen Elementen des Systems und es lässt sich auch nicht erklären, indem man nur ein einzelnes Element betrachtet. Trotzdem ist es ein Phänomen, das häufig auftritt. [3] 

Nun möchte ich auf einen letzten Aspekt von Systemen zu sprechen kommen: Komplexität. Ein komplexes System ist ein System, das schwer zu beschreiben ist. Es darf nicht mit Chaos verwechselt werden: Chaos ist reine Zufälligkeit, also sehr einfach zu beschreiben. Nicht so ein komplexes System. Informationen über ein komplexes System lassen sich nicht auf einfache Aussagen reduzieren. [4] Als Beispiel nehmen wir wieder die oben beschriebene Familie. Einerseits sind alle Personen unterschiedlich: Sie kleiden sich, bewegen sich und sprechen verschieden. Doch es ist nicht reiner Zufall. Die einen mögen sich vielleicht ein wenig lieber als andere und sitzen deshalb gern nebeneinander. Sie tragen zwar meist unterschiedliche Kleidung, aber es gibt zwei Schwestern, die gerne zusammen einkaufen gehen und einen ähnlichen Stil haben. Wenn man von der Situation ausgeht, dass die ganze Familie ein Fest veranstaltet, wird es  nicht möglich sein, die Situation kurz zu beschreiben oder vorauszusagen, wie das Fest ablaufen wird. Es handelt sich um ein komplexes System. 

Wirtschaftssysteme

Nun möchte ich auf eine spezielle Art von System eingehen: auf das Wirtschaftssystem. Dieses beinhaltet Systeme, Strukturen, aber auch Akteure, die miteinander in Verbindung treten, um Bedürfnisse zu befriedigen, und in ihm sind Produktion, Distribution und Konsum organisiert. Es ist ein riesiges, komplexes Netzwerk, das zu überschauen und zu analysieren eine grosse Herausforderung ist. Doch auch hier darf man nie die Umwelt vergessen. Das politische und das kulturelle System haben einen grossen Einfluss. Angefangen bei der Stabilität der drei, die stark zusammenhängen, gibt es auch Regeln aus dem einen System, die auf das andere wirken.

Ein Wirtschaftssystem sollte also die Bedürfnisse der Menschen befriedigen, indem es den Rohstoffabbau, den Rohstofftransport, die verschiedenen Produktionsschritte und die Distribution zu den Konsumenten organisiert. Wie genau das funktioniert, ist jedoch je nach System sehr verschieden. Jedes System hat gewissermassen seine eigenen Spielregeln. Es gibt eine ganze Reihe von Systemen, doch der politische Diskurs befasst sich vor allem mit zwei Formen, weshalb ich mich hier auch auf diese beschränken werde: die Marktwirtschaft und die Zentralplanwirtschaft. In der Marktwirtschaft liegt die Produktion in privaten Händen. Die Preise orientieren sich an Angebot und Nachfrage, es gibt keine Steuerung der Preise und auch sonst keine zentrale Planung. In der Theorie bekommen informierte Konsumierende durch die Konkurrenz auf dem Markt immer das beste und preiswerteste Produkt. 

In der Zentralplanwirtschaft hingegen gibt es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln, sondern sie sind entweder im Besitz des Staates oder aber in den Händen von Kollektiven. Die Preise und die Löhne werden in diesem System von einem zentralen Organ festgelegt und auch das sonstige Funktionieren der Wirtschaft wird zentral kontrolliert und geplant. 

So viel zur Theorie. Praktisch gesehen gibt es nur Mischformen. In der Schweiz beispielsweise ist der grösste Teil der Produktion in privaten Händen. Trotzdem gibt es zum Teil Mindestlöhne und für viele Produkte Mindest- oder Höchstpreise. An den einen Orten wird subventioniert, dafür werden an anderen Gebühren erhoben. Das System hat also sowohl Elemente der Markt-, als auch der Zentralplanwirtschaft. [5]

An welchen Faktoren liegt es aber, was für ein System wir haben? Wodurch wird das Wirtschaftssystem beeinflusst? Einerseits durch Faktoren innerhalb des Systems: Welche Ressourcen erhältlich sind, was produziert wird und wie hoch die Produktionskosten sind. Dann aber auch dadurch, wie die Güter verteilt werden und was konsumiert wird. Es hängt also wieder an den drei Bereichen Produktion, Distribution und Konsum. Auch entscheidend ist der Umfang der Arbeitsteilung. Dann gibt es auch Faktoren, die aus der Umwelt kommen: Die Stabilität der politischen Lage, aber auch grundsätzliche gesellschaftliche Normen. In einer Gesellschaft, wo viel Konsum ein Teil des Prestiges ausmacht und alles immer grösser und schneller sein muss, entwickelt sich ein System anders, als in einer Gesellschaft, in der materieller Besitz weniger wichtig ist. 

Was ist Kapitalismus?

Wie oben gesagt, ist unser System eine Mischform. Die Grundzüge sind aber die des Kapitalismus. Aber was ist überhaupt “Kapitalismus”? Was macht ihn aus? Wie funktioniert er? Auch hier gibt es verschiedene Theorien. Ich möchte zuerst auf Marx und danach auf die neoklassische Wirtschaftstheorie eingehen. 

Gemäss Marx beruht das kapitalistische System auf einigen Grundsätzen. Erstens, es gibt Kapital. Dazu gehört Geld, aber auch Grundeigentum und Eigentum von Gebäuden und Produktionsmitteln, also Fabriken, Maschinen, Werkzeugen, Rohstoffen und so weiter. 

Dem gegenübergestellt wird die Arbeit. Arbeit erzeugt Wert. Am einfachsten ist dies bei handwerklichen Berufen zu sehen: Wenn eine Schreinerin einen Tisch produziert, erzeugt sie Wert, den sie nachher eintauschen kann. Sie bekommt dafür einen gewissen Betrag, der einerseits ihre Arbeit bezahlt, aber auch die Material-, Werkzeug- und Werkstattkosten deckt. Gehen wir nun davon aus, dass diese Schreinerin in einer Werkstatt arbeitet, die einen Besitzer hat, also Privateigentum einer Person ist. Diese Person stellt die Räumlichkeiten, das Material und Werkzeug zur Verfügung. Doch vom Lohn der Schreinerin wird nicht nur so viel abgezogen, dass diese Kosten gedeckt sind, sondern noch mehr. Das ist der Mehrwert, der reinvestiert, oder aber abgeschöpft – dem Besitzer ausgezahlt – werden kann. Es wird Profit gemacht. Die Schreinerin erhält also nur einen Teil des produzierten Wertes, der Rest wird akkumuliert. Damit meint Marx, dass sich das Kapital ansammelt, in unserem Beispiel bei dem Besitzer der Werkstatt. Dieser bekommt immer mehr Geld, während die Arbeitenden in der Werkstatt nie den ganzen Wert bekommen, den sie produzieren – sie werden ausgebeutet. 

Die neoklassische Wirtschaftstheorie hat andere Grundannahmen: Sie geht davon aus, dass jedes Element des Systems rational handelt und versucht, den eigenen Nutzen zu vergrössern. Das Element wird auch „homo oeconomicus“ genannt und es kann sich um eine Einzelperson handeln, die ihre Ausgaben minimiert, aber auch um ein Unternehmen, das die Produktion so anpasst, dass dabei seine Ziele erreicht werden. So entsteht ein Spiel von Angebot und Nachfrage, das den Markt wie eine unsichtbare Hand steuert. Neben der Annahme, dass jedes Wirtschaftssubjekt rational handelt, geht die Theorie auch davon aus, dass die Subjekte immer informiert sind. Sind sie das nicht, können sie nicht die besten Entscheidungen treffen, wovon wiederum andere übermässig profitieren. So entsteht kein perfekter Markt. [6]

Was hat das mit uns zu tun?

Was bringt uns nun dieses Wissen über Systeme? Was nehmen wir aus diesen Überlegungen mit? Systeme zu analysieren und zu verstehen ist sehr schwierig. Viele Fragen lassen sich gar nicht beantworten, da vieles nur in vereinfachter Form analysiert werden kann. Es ist bei vielen Systemen schwierig zu sagen, wie sie sich entwickeln werden und es sind nur kurzfristige Prognosen möglich. Aber meiner Meinung nach hilft dieses Wissen nur schon, unsere Bewegung zu verstehen: Durch positive Rückkopplung, die Komplexität unserer Gesellschaft und plötzliche Selbstorganisation war es überhaupt erst möglich, dass der Klimastreik entstanden ist. Kommen wir hier nochmals auf das Bild des Netzwerkes zurück: Die Klimastreikbewegung ist ein grosses Netzwerk. Es gibt viele Akteure, die sich zu verschiedenen Organen zusammenschliessen: Plenen, Arbeitsgruppen, adHoc-Gruppen und so weiter. Diese sind untereinander wiederum vernetzt, die einen stärker, die anderen weniger stark, wobei gerade die Organe, die viele Verbindungen in sich vereinen, extrem wichtig sind. Meiner Meinung ist das beste Beispiel hierfür das Plenum. Was wäre der Klimastreik ohne Plenum? Es könnte nichts entschieden werden, sich zu vernetzen wäre viel komplizierter und wir würden uns aus den Augen verlieren. Das Wissen über Systeme zeigt uns, wie wichtig dieses Netzwerk ist.

Doch wir können so auch klimabezogene Phänomene besser verstehen: Bei dem Tipping Point handelt es sich um ein typisches Beispiel positiver Rückkopplungen, beziehungsweise eines Phasenübergangs. Wenn zum Beispiel viel Schnee am Nordpol schmilzt, dann kommt mehr Eis zum Vorschein. Eis reflektiert viel weniger als Schnee und so wird mehr Strahlung in Wärme umgewandelt, was wieder zu stärkerer Erhitzung des Planeten führt. Ist dann eine gewisse Temperatur erreicht – der Punkt des Phasenübergangs – schmilzt das Eis viel schneller. 

Natürlich bringt uns das Wissen über Systeme weiter in Bezug auf unser Wirtschaftssystem und den Systemwandel: Wenn wir wissen, wie das System funktioniert und seine Schwächen erkennen, ist es viel einfacher, sich Lösungen vorzustellen. Wir wissen aber auch, dass es fast unmöglich ist zu prognostizieren, wie sich Veränderungen am System auswirken werden. Und dass schon Kleines eine grosse Wirkung erzielen kann. Deshalb sollten wir die Hoffnung nicht verlieren und weiter für eine Lösung der Klimakrise kämpfen.

Wanda Siegfried, 20 Jahre alt, studiert Islamwissenschaften und Geschichte

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