netto.null n.02

Editorial:

«Die anfängliche Euphorie verebbt langsam» – Die Analyse des Tages-Anzeigers im vergangenen Mai zum Zustand des Klimastreiks: «Das erste netto.null, die Chance der Flaute entgegenzuwirken.» Nun ist es Zeit für einen kurzen Rückblick von unserer Seite: Das erste gemeinsame Werk der Redaktion wurde von den Leser*innen gut aufgenommen, die Pflichtfehler einer ersten Ausgabe grosszügig verziehen, und die grossen Artikel dienten als Diskussionsgrundlage bei so manchen langen Abenden. Die Frage nach einer Onlineversion tauchte auf, welche wir schon vor der ersten Ausgabe ausführlich diskutierten. Als Konsens entstand ein nachhaltig produziertes Magazin, welches man als Leser*in in den Händen halten kann und einen länger bleibenden Eindruck hinterlässt.  Onlinetexte sind vergänglicher und haben weniger den Anspruch, Mittelpunkt einer Diskussion zu sein. Trotzdem möchten wir uns mit dieser Ausgabe an die Onlineversion heranwagen. Im Abstand einiger Wochen werden einige Texte im Internet auf nettonull.org publiziert, wo ihr selbst eure Gedanken, Gegenargumente oder Ideen hinterlassen könnt. So werden hoffentlich sowohl die Print-Enthusiast*innen wie auch die Smartphone-Generationen gleichermassen erreicht.

Es stellt sich nun die Frage, ob das vom Tages-Anzeiger skizzierte Szenario tatsächlich eingetroffen ist. Kurzer Rückblick: Auf die Erstveröffentlichung des netto.null folgte erneut ein Freitag mit grossen Demonstrationen. Alleine in Zürich trafen sich 10’000 Menschen auf der Strasse. Einen Monat später reiste eine grosse Delegation aus der Schweiz nach Aachen an den internationalen Klimastreik – 40’000 Menschen auf der Strasse. Eine Wucht! Anfangs Juli dann erfolgte ein grosser medialer Aufschrei, weil sich Klimaaktivist*innen vor den Türen der Grossbanken Credit Suisse und UBS platzierten. Viele Klimastreikende solidarisierten sich daraufhin und organisierten Solidaritätsdemonstrationen vor dem Zürcher Gefängnis. Ende Juli trafen sich Menschen aus allen Regionen zum 4. Nationalen Meeting, für viele das bisher konstruktivste. Anfangs August fand in Zürich das Klimafestival statt und eine Woche später versammelten sich hunderte von jungen Menschen in Lausanne, um die Zukunft der europäischen Klimastreik- und «Fridays for Future»-Bewegung zu diskutieren. Fazit: Trotz Sommerpause und Prüfungsstress läuft mehr denn je zuvor!

Und trotzdem bleibt das Gefühl, es werde weniger, gerade in der Wahrnehmung durch Menschen ausserhalb der Bewegung. Es stimmt ja tatsächlich auch, dass schweizweit Ende Mai weniger Menschen auf die Strassen gingen als noch zwei Monate zuvor. Es stimmt aber nicht, wenn vermutet wird, dass die Bewegung nun zusammenbreche. Die Klimabewegung macht zur Zeit Schritte, die von aussen nicht erkennbar sind. Es sind Schritte in einem Prozess, in welchem wir uns politisch bilden und unsere Herangehensweise differenzieren. Sie sind notwendig, weil sich in der Politik und der Wirtschaft trotz grossem Druck von der Strasse wenig bis nichts geändert hat. Es stellt sich die Frage: «Warum?» Warum rasen wir noch genau gleich schnell auf den Abgrund zu, obwohl wir zu Hunderten ein halbes Jahr lang alles andere liegen gelassen haben und dutzende Klimastreikende komplett überarbeitet sind?

Somit kommen wir zu diesem Heft. Seit der Slogan «System Change» auf einem Transparent zu lesen war, taucht die Diskussion dazu auf allen Ebenen immer wieder auf. Die Klausel mit dem «Systemwandel», also dass wir einen solchen brauchen, falls die Forderungen nicht im aktuellen System umzusetzen wären, ist die schwammigste unserer vier Forderungen. Folgefragen sind daher logisch: Was heisst: «Falls es in diesem System nicht möglich ist»? Was ist überhaupt das System? Und was wäre ein Systemwandel? Dies sind Fragen, die wir als Bewegung und als Gesellschaft offen diskutieren können müssen. Sie bedürfen aber auch einer gewissen Grundlage. «Kommunismus nützt dem Klima nichts!», titelte der Blick anfangs August und zeigt damit exemplarisch den undifferenzierten Umgang der etablierten Kräfte mit eben solchen Fragen. Damit wir konkret über mögliche Problemstellungen des jetzigen Systems und allfällige Alternativen debattieren können, möchten wir deshalb mit dieser zweiten Ausgabe des netto.null den nötigen Stoff liefern. Nachdem die erste Ausgabe die Frage «Wer sind wir?» zu beantworten versuchte, sprechen wir nun also über das «Was wollen wir?» – In einem weiteren Schritt möglicherweise auch über die Frage: «Wie erreichen wir das?»

In dieser Ausgabe beginnen wir auf der Flughöhe eines Linienfliegers. «Was ist überhaupt ein System?», lautet die Frage, die wir uns auch als Redaktion als erstes gestellt haben. Wenn wir über den System Change diskutieren wollen, kommen wir um sie nicht herum. Doch damit es nach diesem theoretischen Einstieg nicht zu trocken wird, folgen zwei Artikel, die erste Diskussionen einleiten. Ihr habt sicherlich mitbekommen, dass die FDP neuerdings das Klima auch mag – den zweiten Artikel könnt ihr ihnen vorhalten, wenn sie das nächste Mal mit «Forschung, Innovation und Eigenverantwortung» antanzen. Sich mit solchen theoretischen Systemkritiken auseinanderzusetzen, bringe nichts, das dauere alles zu lange, meint Vincent auf der gemässigten Gegenseite im darauffolgenden Streitgespräch. Wer ausserdem gerne abgeänderte Kant-Zitate liest, dem ist «Die zweite Aufklärung» zu empfehlen – eine ganz andere Perspektive auf den System Change.

Dann ist aber vorerst vorbei mit Flughöhe Easyjet. Wir müssen konkret werden. System Change – Was bedeutet das in der Realität? Dazu drei Beispiele zu nachhaltigerem Wirtschaften und Handeln. Die Vision des Parecon setzt auf kollektiven Besitz und Demokratisierung, will aber auf keinen Fall eine zentralistische Planwirtschaft. In Österreich versucht der zurückhaltende Verein «Wir Gemeinsam», das Währungssystem neu zu denken, und zuletzt: runter mit dem Wirtschaftswachstum – hoch mit der Nachhaltigkeit! 

«Muss es denn immer gleich so radikal sein?» Ja, muss es! Schliesslich haben wir bei der aktuellen Entwicklung noch knapp zehn Jahre Zeit, bis die Welt vor die Hunde geht. Trotzdem ist es nicht unser Ziel, dem neu gewählten Parlament in Bern nach dem 20. Oktober keine Chance zu geben. In Bereichen des Verkehrs und Gebäudesektors gibt es noch grosses Potential. Wie wir dort ansetzen können, beschreibt Lina auf den letzten Seiten des Magazins. Auf den Seiten davor stellt Jonas unsere Forderung an den Bundesrat vor: Es braucht einen Klimaaktionsplan, einen Plan, wie wir das 1.5 °C-Ziel einhalten können. Sonst müssen wir noch für Ewigkeiten weiter auf die Strasse, und auch wir freuen uns irgendwann auf eine Pause. Inspiration für den ambitionierten Zürcher Gemeinderat, der sich das Ziel bis 2030 gesetzt hat, gibts dann ganz am Schluss im Artikel zur nachhaltigen Stadt. 

Soviel zum Inhalt dieser Ausgabe. Der rotgrüne Faden dieses Hefts verläuft vom Grossen ins Kleine. Letzte Bemerkung: Bevor ein gewisser Ständeratskandidat aus Zürich jeden Artikel als Konsensmeinung des Klimastreik verkaufen will, gilt es nochmals zu betonen, dass die Positionen, die in den Artikeln vertreten werden, in erster Linie denjenigen der Autor*innen entsprechen. Wir wollen als Redaktion bewusst möglichst viele Meinungen unserer Bewegung darstellen, und halten es für das beste Fundament für konstruktive Diskussionen. Auch wenn wir teilweise ganz unterschiedlicher Meinung sind, was als nächstes passieren soll: Der Kampf für eine bessere Zukunft eint uns, und in dieser Einigkeit sind wir stärker als je zuvor. Ich wünsche im Namen der ganzen Redaktion eine gute Lektüre und freue mich auf konstruktive Kritiken jeglicher Art. Und wenn ihr das Heft dann wieder zur Seite legt, ab an den Klimastreik! 

Nicola Sigrist