Wieso wir manchmal das Gesetz brechen müssen


Originaltext ist auf deutsch geschrieben.

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Non violent direct actions (NVDA) und ziviler Ungehorsam sind eng verknüpfte Aktionsformen, von denen unsere Bewegung lebt. Sie sind nicht unumstritten, doch inwiefern können sie uns weiterhin von Nutzen sein und welche Rolle spielt die Gewalt dabei?

Der zivile Ungehorsam setzt eine grundlegende Akzeptanz des Staates beziehungsweise der Regierung voraus; es soll nur auf bestimmte Regelungen oder Gesetze hingewiesen werden, welche die Aktivist*innen als ungerecht empfinden. Man handelt folglich nicht eigennützig, sondern will sich für das Gemeinwohl einsetzen [1]. Bei der Umsetzung wird zur Betonung der Dringlichkeit auf den bewussten Verstoss der rechtlichen Norm gesetzt. 

NVDA bedeutet ein unvermitteltes Eingreifen der Menschen in politische Zusammenhänge mithilfe von gewaltfreien direkten Aktionen [2]. Eine direkte Aktion kann gegen den Staat oder eine andere Institution gerichtet sein. Sie soll primär öffentliche Aufmerksamkeit erregen und den Konflikt so dramatisieren, dass über ihn und die Inkompetenz des herrschenden Systems zur Lösung desselben nicht länger hinweggesehen werden kann [3].

Unsere Form des Streiks ist das prominenteste Beispiel, doch es gibt noch andere Arten der NVDA und des zivilen Ungehorsams. In der Vergangenheit wurden schon Kreisel, Eingänge zu Banken und Privatjet-Terminals blockiert; Klimastreikaktivist*innen protestierten in einer Sitzung im Nationalratssaal, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen, und ebenfalls beim Bundeshaus legte sich Extinction Rebellion in ein symbolisches «Blutbad». All diese Aktionen haben gemeinsam, dass sie provozieren und Aufmerksamkeit erregen, die Medien stürzen sich mit Freude darauf. Aktionen dieser Art ziehen Blicke auf sich, die Passant*innen bleiben stehen, machen Fotos, fragen nach. So können wir unserem Ziel ein Stückchen näher kommen: Indem wir die breite Bevölkerung auf das Thema sensibilisieren und somit eine Veränderung auslösen. Wenn die Menschen in ihrem Alltag beeinträchtigt werden, indem sie nicht zur Arbeit gelangen oder in ihr Flugzeug einsteigen können, dann wird die Thematik auf die persönliche Ebene übertragen. Damit soll erreicht werden, dass sich jede*r mit der Thematik intensiv auseinandersetzt.

Manche Aktionen lösen aber auch Verärgerung bei den davon betroffenen Menschen aus. Dies kann insofern suboptimal für unsere Bewegung sein, als dass diese von potenziellen Verbündeten als negativ wahrgenommen wird. Hierbei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass die Unannehmlichkeiten, die bei Blockaden oder ähnlichem entstehen, nichts im Vergleich zu denen sind, welche in Zukunft mit Sicherheit auftreten – falls nicht sofort entsprechend dem ökologischen Notstand, in dem wir uns befinden, gehandelt wird. 

Doch es geht nicht nur um die Individuen. Es geht auch darum, dass die Besetzung von öffentlichen Institutionen im grossen Stil Druck auf die Regierung ausübt. Der entscheidende Faktor für viele ist, dass die Aktivist*innen stets ohne Gewalt agieren. Sobald es nicht mehr friedlich zu und her ginge, hätte einerseits die Polizei Grund dazu, vehement gegen die Proteste vorzugehen, andererseits trüge das Image des Klimastreiks erheblichen Schaden davon. 

Häufig wird ziviler Ungehorsam ebenfalls als absolut gewaltfrei definiert, aufgrund des «Zivilen» im Namen – zivilisiert als Synonym für gewaltfrei. Hier ist jedoch eine Differenzierung nötig, denn Gewalt ist ein äusserst breiter Begriff. Es steht ausser Frage, dass ausartende, unkontrollierte und willkürliche Gewalt nicht zu einem Akt des zivilen Ungehorsam gehört. Doch ist bewusst symbolisch eingesetzte Gewalt in kleinem Masse, beispielsweise die Beschädigung einer Bankfassade, pauschal und immer «schlecht» [4]?

Schon ohne Gewalt werden NVDA und ziviler Ungehorsam oft kritisiert: Der Rechtsstaat werde über Bord geworfen, die Aktionen werden immer extremer, heisst es. Doch nur weil eine Handlung gegen das Gesetz verstösst, heisst das nicht zwingend, dass sie moralisch verwerflich ist. Paradebeispiel dafür: Rosa Parks, die ebenfalls als gesetzwidrig klassifiziert wurde. Sie weigerte sich, ihren Sitz im Bus einem Weissen freizugeben – und wurde dafür verhaftet [5]. Rosa Parks’ Handlung wird, obwohl gesetzwidrig, als heroisch gefeiert. Denn die Bürgerrechtsbewegung trug massgeblich dazu bei, die gesetzlich legitimierte Situation der Ungerechtigkeit zu verbessern. Natürlich befinden wir uns heute in einer etwas anderen Situation, das Prinzip lässt sich jedoch ohne weiteres übertragen. Man darf das Gesetz brechen, um etwas Gutes zu erreichen. Darauf stellt sich die Frage, inwiefern «das Gute» definiert ist. In unserem Falle geht es aber nicht um ein subjektives Thema, bei dem zur Diskussion steht, ob es gut genug ist, um Gesetzesbrüche zu legitimieren. Es geht um wissenschaftliche Erkenntnisse; es geht ums Überleben. Wenn nicht dafür kämpfen, für was dann? 

Wie schon Brecht gesagt haben soll: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Zufriedene Menschen ergreifen nicht solch drastische Massnahmen und sind sogar bereit, sich dafür verhaften zu lassen. Ziviler Ungehorsam ist ein Akt der Verzweiflung – und wir sind verzweifelt. 

Fatima Arslantas, 17 Jahre jung, Kantonsschülerin, engagiert im Klimastreik Aargau. Mitglied in keiner Partei.

Fatima Arslantas, 17 Jahre jung, Kantonsschülerin, engagiert im Klimastreik Aargau. Mitglied in keiner Partei.

Quellen:

[1] https://www.br.de/nachrichten/kultur/wie-legitim-ist-der-zivile-ungehorsam-der-klima-aktivisten,RfXIl0k / Abruf 23.12.2019.

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Direkte_Aktion / Abruf 8.12.2019.

[3] https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/011382.html / Abruf 22.12.2019.

[4] http://cw.routledge.com/textbooks/alevelphilosophy/data/AS/WhyShouldIBeGoverned/Civildisobedience.pdf / Abruf 22.12.2019.

[5] https://www.britannica.com/biography/Rosa-Parks / Abruf 9.12.2019.

Ökofaschismus


Originaltext auf Deutsch

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Die Antwort auf die Klimakrise ist nicht in jedem Fall solidarisch und gerecht; sie kann auch faschistisch ausfallen. Noch bestreiten die meisten rechtsextremen Parteien die Existenz der Klimakrise, doch dies könnte sich schon bald ändern.  

Rechte oder rechtsextreme Parteien, welche die Existenz der Klimakrise leugnen, sind gefährlich. Das Einzige, was noch gefährlicher ist, sind rechte oder rechtsextreme Parteien, die die Existenz der Klimakrise anerkennen und Handlungsbedarf sehen. Eine Erhebung der Denkfabrik adelphi hat ergeben, dass eine Mehrheit der rechtspopulistischen Parteien in Europa die Klimakrise leugnen oder diese nicht aktiv als existent akzeptieren [1]. Gemäss der Autorin Naomi Klein wird sich dies aber in den nächsten Jahren ändern. In ihrem neuen Buch «On Fire – A Case for a Green New Deal» befasst sie sich mit dem Attentäter, welcher in Christchurch am 15. März 2019 fünfzig Menschen in einer Moschee ermordete [2]. Nur wenige hundert Meter davon entfernt fand anlässlich des globalen Klimastreiks eine Demonstration statt. Die Zusammenhänge bestehen darin, dass der Attentäter, welcher aus rassistischen Motiven handelte, in seinem Manifest vom ökologischen Kollaps spricht und dies als einen Grund für seine Tat angibt. In seinem Manifest schreibt er: «Es gibt keinen Nationalismus ohne Umweltschutz» («There is no nationalism without environmentalism») [3]. Dies ist eine direkte Referenz zur Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus. In den letzten Jahren tauchte die Umweltzerstörung immer wieder in den Manifesten anderer rechtsextremer Attentäter auf.

Die Klimakrise und die umfassende Zerstörung der Umwelt beschäftigen aber nicht nur einzelne Attentäter, sondern tauchen vermehrt in organisierten Strukturen rechter und rechtsextremer Gruppen und Medienhäuser auf. Die neofaschistische NPD propagiert den Spruch «Umweltschutz ist Heimatschutz» [4], und die SVP sieht in der Migration die Ursache der hiesigen und globalen Umweltprobleme [5]. Zurzeit leugnen beide Parteien die Klimakrise, doch ein Beitrag von Tucker Carlson beim US-amerikanischen Sender Fox News [6] lässt erahnen, wie die neue Position zur Klimakrise der Rechten aussehen könnte. Carlson meinte, wenn die Klimakrise existiere, müsste in der Folge die Grenze der USA zu Mexiko dicht gemacht werden, um die Migration zu stoppen. Seine Folgerung stützt er darauf, dass Personen in Ländern des Globalen Nordens mehr Treibhausgasemissionen verursachen als Menschen im Globalen Süden – was faktisch korrekt ist. Nur zieht er daraus den Schluss, dass ein Anstieg der Emissionen verhindert werden kann, wenn Personen mit einem kleinen Kohlenstoff-Fussabdruck nicht mehr in Länder mit einem grossen Fussabdruck migrieren.

In den nächsten Absätzen skizziere ich, wie eine rechte oder sogar faschistische Klimapolitik aussehen könnte. Dabei sollte zwischen diesen beiden Bezeichnungen doch klar unterschieden werden: Während rechts politisierende Gruppen die Demokratie und den Rechtsstaat als grundlegend erachten, lehnen faschistische Gruppen demokratische Strukturen ab und wollen eine totalitäre Gesellschaft errichten. Gemäss dieser Definition sind Trump und die AfD klar als faschistisch einzustufen: Parteivertreter*innen der AfD verharmlosen oder leugnen den Holocaust, und einzelne dürfen offen Faschist*innen genannt werden. Trump hat sich nie klar von den Vorfällen in Charlottesville oder zu seiner Beziehung zu Faschist*innen wie KKK-Anführer David Duke distanziert. Die Protestierenden in Charlottesville nannte er sogar «sehr anständige Leute» («very fine people») [7]. Er bezeichnete alle Mexikaner als Vergewaltiger und liess Menschen in Lagern einsperren. Die SVP hat Mitglieder, welche sich bei Aufmärschen von Neonazis beteiligen, sie hat aber auch einen grossen Anteil an Menschen, welche als bürgerlich zu bezeichnen sind. Die SVP kann also nicht in ihrer Einheit als faschistisch bezeichnet werden.

Nehmen wir an, dass rechte und faschistische Parteien die Existenz der Klimakrise akzeptieren würden und diese mit effektiven Massnahmen stoppen wollten. Daraus folgt die Frage, inwiefern sich eine rechte Klimapolitik von einer linken unterscheiden würde. Während in der linken Klimapolitik die soziale Gerechtigkeit, auch bekannt als Klimagerechtigkeit, von zentraler Bedeutung ist, missachtet die Rechte diese oder wirkt ihr sogar bewusst entgegen. Während zum Beispiel Verbote als Klimaschutzmassnahmen im progressiven, linken Sinne so gestaltet sein sollen, dass sie Kapital und Macht von Besitzenden zu Arbeitenden umverteilt, setzt die Rechte stark auf Eigenverantwortung und die Vorstellung, dass alle ihres eigenen Glückes Schmied*in sind, was in Realität zu einer immer perfideren Ballung von Macht, Kapital und Privilegien im Besitz einer kleinen Elite führt. Mit Verboten können also bewusst sozial schwächere Gruppen angegriffen und als Sündenböcke der Klimakrise hingestellt werden, wie dies bereits heute geschieht, wenn einzelne Personen wegen ihres Konsumverhaltens für die Klimakrise verantwortlich gemacht werden.

Rechte Verbotspolitik könnte zum Beispiel bedeuten, dass Autos mit Verbrennungsmotor untersagt würden, ohne Alternativen zu bieten: Der öffentliche Verkehr in Randregionen würde nicht ausgebaut, und die Preise für Elektroautos wären zu hoch für einen grossen Teil der Bewohner*innen. Eine solche Politik, die in Frankreich zum Teil unter Macron praktiziert wird, hat zur Folge, dass Personen aus Randgruppen durch eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Wenn Klimagerechtigkeit nicht von zentraler Bedeutung jeglicher Klimaschutzmassnahmen ist, oder sogar bewusst nicht berücksichtigt wird, hat dies fatale Auswirkungen für die betroffenen Menschen. Während de facto Emissionen reduziert werden, wird die Ungleichheit in der Gesellschaft vergrössert.

Rechte Klimapolitik muss nicht bewusst asozial gestaltet sein. An der Reaktion Macrons auf die Proteste der Gelbwesten lässt sich erahnen, dass er sichtlich von deren Widerstand überrascht wurde. Weil rechte Politik schon immer einer privilegierten Schicht diente und diese keinen Bezug zu den realen Lebensumständen der arbeitenden Bevölkerung hat, fehlt dieser auch das Verständnis für eine sozial gerechte Klimapolitik.

Im Gegensatz zu einer rechten Politik ist die absolute Kontrolle und Strukturierung von jedem Lebensbereich im Faschismus zentral. Verbote sind dabei ein wichtiges Machtinstrument, um die Kontrolle über die Menschen zu erlangen. Ein Verstoss gegen diese Verbote könnte unter einer faschistischen Klimapolitik massiv bestraft werden, besonders unter dem Deckmantel von Umweltschutz als Heimatschutz. Das Missachten dieser Verbote wäre demnach ein Verrat an der «Heimat» und am «Volke». Klimapolitik ohne Klimagerechtigkeit führt also unweigerlich in eine sehr düstere, wenn nicht braune Zukunft.

Nun lässt sich ein zweites Szenario entwerfen, das die Beziehung zwischen Klimakrise und Faschismus beleuchtet: Ein ungehinderter Anstieg der THG-Emissionen hat eine humanitäre Katastrophe zur Folge. Im fünften Sachstandsberichts des Weltklimarats geht dieser von einer erhöhten Migrationsrate wegen der Auswirkungen der Klimakrise aus [8]. Die Menschen, die aufgrund der Klimakrise ihre Heimat verlieren werden, werden irgendwo ein neues Leben beginnen müssen: Es wird angenommen, dass die dem Bürger*innenkrieg in Syrien vorangegangene Dürreperiode zwischen 2006 und 2010 ein massgeblicher Faktor für dessen Entstehung war [9]. Viele Menschen, welche zurzeit an der Südgrenze der USA gestrandet sind, sind aus ihrer Heimat in Mittelamerika geflohen, weil sie ihre Lebensgrundlage durch extreme Dürren verloren haben [10]. Die Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat aufgrund der Klimakrise ist also schon lange kein fernes Zukunftsszenario mehr.

Noch viel erschreckender sind aber die Reaktionen Europas und der USA auf diese Ereignisse. Als in den Jahren 2015 und 2016 eine Rekordzahl von Menschen versuchte, über verschiedene Routen nach Europa zu gelangen, hätte die Antwort darauf nicht brutaler und hässlicher ausfallen können. Heute sind die Aussengrenzen Europas geschlossen, Zäune wurden hochgezogen und die Grenzen werden bewacht durch Frontex und libysche Milizen auf dem Mittelmeer. Unzählige Menschen werden in Libyen unter prekären humanitären Bedingungen in Lagern gefangen gehalten und Seenotretter*innen wie Carola Rackete werden kriminalisiert. In den USA sieht die Situation nicht viel anders aus: Der Grenzzaun, welcher schon vor Trump existierte, zwingt viele Menschen, eine lebensgefährliche Reise durch die Wüste anzutreten. Überleben sie die Wüste, sind sie als undokumentierte Personen in den USA ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Unter der Präsidentschaft Trumps werden Asylsuchende in Lagern unter problematischen sanitären Bedingungen eingesperrt. Wenn Migration aufgrund der Klimakrise zur Realität wird, entblösst sich das hässliche Antlitz westlicher Gesellschaften durch Fremdenhass und offenen Rassismus.

Gleichzeitig erlebt die Welt einen Aufstieg rechter Parteien und Politiker*innen, welche mit Hass und Hetze Wahlen gewinnen. Immer mehr Menschen leiden unter einer neoliberalen Politik, welche ihnen immer weniger zum Leben lässt. Nach Jahrzehnten unter der Vorherrschaft einer Ideologie, welche das Individuum ins Zentrum rückt, die gewerkschaftliche Organisierung von Arbeiter*innen zerschlug und behauptet, dass es so etwas wie die Gesellschaft nicht gebe, existiert keine Solidarität mehr unter den Unterdrückten.Diese Entwicklung spielt den rechtsextremen Kräften in die Hände, welche einfache Lösungen auf Kosten von Menschen propagieren, die noch stärker unter der neoliberalen Politik leiden. Vertreter*innen traditioneller bürgerlicher Volksparteien unternehmen keine konsequenten Versuche, sich von dieser Politik zu distanzieren. In den USA folgt immer noch eine Mehrheit der Republikaner*innen der Politik Trumps, und in Deutschland denkt die CDU in einigen Bundesländern offen über eine Koalition mit der AfD nach, und dies weniger als ein Jahr nachdem ihr Parteikollege Lübcke wegen seiner Flüchtlingspolitik erschossen wurde. Mit diesem Verhalten legen diese Parteien den Boden für das Erstarken von neofaschistischem Gedankengut auf der ganzen Welt.

Zurzeit ist die Forderung nach Klimaschutz nur in linken Parteien und Gruppen mehr oder weniger etabliert, doch dies könnte sich schon bald ändern. Der Faschismus im 20. Jahrhundert hat nicht mit Konzentrationslagern begonnen, sondern mit der Spaltung der Gesellschaft und mit der Ausnutzung von Krisensituationen. Diesen Umstands muss sich die Klimabewegung bewusst sein. Der Sierra Club, eine der grössten Umweltorganisationen in den USA, lief vor einigen Jahren ernsthaft Gefahr, von rechtsextremen Gruppen unterwandert zu werden. So gab es in mehreren US-Bundesstaaten gemeinsame Kampagnen der Tea Party und des Sierra Clubs zur Förderung von Solar Panels, und Personen mit antisemitischen Ansichten kandidierten für den Vorstand [11]. Am 29. November 2019 gab es an einem Klimastreik in Polen ein Transparent mit der Aufschrift: «Save Bees, not Refugees» [12]. Der Klimastreik darf seine Augen nicht vor diesen Entwicklungen verschliessen.

Die Antwort des Klimastreiks auf eine ökofaschistische Politik muss klar sein: Klimapolitik muss immer sozial gerecht sein. Der Klimastreik lebt von Beginn weg von Solidarität, dem gegenseitigem Respekt und der Toleranz. Wenn wir unsere dritte Forderung ausformulieren wollen, dann muss für uns klar sein: Klimagerechtigkeit ist antifaschistisch. Es reicht nicht, nur von einer besseren Welt zu sprechen und mit positiver Rhetorik die Ausbreitung solchen Gedankenguts zu verhindern; unser ganzes Handeln muss durch den Antifaschismus geprägt sein. Dies bedeutet, dass wir jegliche Versuche von rechts, die Agenda der Klimapolitik durch ihre Themen zu besetzen, konsequent verhindern. Rechte Klimapolitik dient ausschliesslich dem Erhalt einer privilegierten, weissen Elite und schert sich nicht um das Wohl der restlichen Bevölkerung.

Auch der Klimastreik muss widerstandsfähige Strukturen in der Gesellschaft aufbauen, die von Diversität und einem offenen Zusammenleben geprägt sind. Am anfälligsten für faschistisches Gedankengut sind die Menschen, wenn sie das Gefühl haben, auf sich allein gestellt zu sein. Der Klimastreik hat mit seinem breiten Vorgehen gezeigt, dass der Kampf gegen die Klimakrise ein kollektiver Kampf ist. Dieses Gefühl müssen wir noch stärker in der Gesellschaft etablieren. Schlussendlich kämpfen wir nicht fürs Klima, sondern für die Menschen. Und ein Kampf für die Menschen kann nur ein Kampf gegen den Faschismus sein.

Textauszüge: 1) Klimapolitik ohne Klimagerechtigkeit führt unweigerlich in eine sehr düstere, wenn nicht braune Zukunft. 2) Der Faschismus im 20. Jahrhundert hat nicht mit Konzentrationslagern begonnen, sondern mit der Spaltung der Gesellschaft. 3) Klimagerechtigkeit ist antifaschistisch. 4) Schlussendlich kämpfen wir nicht fürs Klima, sondern für die Menschen.

Zusammenfassung: Die meisten rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien anerkennen momentan die Existenz der Klimakrise nicht. Es gibt aber erste Anzeichen, dass sich dies bald ändern könnte. Die Klimapolitik rechter Parteien und Gruppen unterscheidet sich dabei grundlegend von sozial gerechten Klimaschutzmassnahmen: Zur Erreichung von Klimazielen könnten sie zu Massnahmen greifen, welche die Freiheit gewisser Bevölkerungsgruppen massiv einschränkt. Die Folgen der Klimakrise, wie zum Beispiel erhöhte Migration, könnte zum Erstarken rechter und offen faschistischer Parteien führen. Bereits heute zeigt sich, wie die Staaten in Nordamerika und Europa darauf reagieren. Ein ungebremstes Fortschreiten der Klimakrise könnte zu einer Abschottung Europas und Nordamerikas führen. Klimagerechtigkeit muss deshalb auch antifaschistisch sein und der Klimastreik muss sich aktiv für eine offene und solidarische Gesellschaft einsetzen, um die Wiederkehr des Faschismus im Keim zu ersticken.

Jonas Kampus, 18 Jahre, Kantonsschüler, aktiv im Klimastreik beim Strike For Future, der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, dem Klima-Aktionsplan, der Medienarbeit und der globalen Koordination

 Quellen:

[1]S. Schaller und A. Carius, «Convenient Truth: Mapping climate agendas of right-wing populist parties in Europe», adelphi, Berlin, 2019.
[2]ABC News, «Christchurch shooting death toll rises to 50 after one more victim discovered at mosque», ABC New, 17 März 2019. [Online]. Available: https://www.abc.net.au/news/2019-03-17/christchurch-shooting-death-toll-rises-to-50-new-zealand/10909288. [Zugriff am 24 November 2019].
[3]N. Lennard, «The El Paso Shooter Embraced Eco-Fascism. We Can’t Let the Far Right Co-Opt the Environmental Struggle», The Intercept, 5 August 2019. [Online]. Available: https://theintercept.com/2019/08/05/el-paso-shooting-eco-fascism-migration/. [Zugriff am 9 Dezember 2019].
[4]S. Götze, «Grünes Blatt, brauner Boden», Spiegel Online, 28 Juli 2019. [Online]. Available: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/dresdner-erklaerung-das-nationalistische-umweltverstaendnis-der-afd-a-1279206.html. [Zugriff am 24 November 2019].
[5]A. Amstutz, «Massive Belastung für Umwelt: 1 Million mehr Menschen in den letzten 11 Jahren», Extrablatt: Vernunft statt Ideologie, p. 2, Juni 2019.
[6]L. Moran, «Tucker Carlson Comes This Close To Echoing His Ugliest Statement About Immigration», Huffington Post, 21 November 2019. [Online]. Available: https://www.huffpost.com/entry/fox-news-tucker-carlson-immigration-comments-climate-crisis_n_5dca6c56e4b02bf579459f22. [Zugriff am 24 November 2019].
[7]B. Jacobs und O. Laughland, «Charlottesville: Trump reverts to blaming both sides including ‹violent alt-left’», The Guardian, 16 August 2017. [Online]. Available: https://www.theguardian.com/us-news/2017/aug/15/donald-trump-press-conference-far-right-defends-charlottesville. [Zugriff am 18 Dezember 2019].
[8]IPCC, «Climate Change 2014: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Part A: Global and Sectoral Aspects. Contribution of Working Group II to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change», Cambridge University Press, Cambrige, United Kingdom and New York, NY, USA, 2014.
[9]F. D. Châtel, «The Role of Drought and Climate Change in the Syrian Uprising: Untangling the Triggers of the Revolution», Middle Eastern Studies, Bd. 50, Nr. 4, pp. 521-535, 2014.
[10]L. Markham, «How climate change is pushing Central American migrants to the US», The Guardian, 6 April 2019. [Online]. Available: https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/apr/06/us-mexico-immigration-climate-change-migration. [Zugriff am 9 Dezember 2019].
[11]M. Phelan, «The Menace of Eco-Fascism», The New York Review of Books, 22 Oktober 2018. [Online]. Available: https://www.nybooks.com/daily/2018/10/22/the-menace-of-eco-fascism/. [Zugriff am 9 Dezember 2019].
[12]R. Drosner, «In Polen sind viele Klima-Aktivist*innen nationalistisch», jetzt, 6 Dezember 2019. [Online]. Available: https://www.jetzt.de/umwelt/friday-for-future-in-polen-fuer-das-klima-aber-gegen-fluechtlinge. [Zugriff am 9 Dezember 2019].

Appell an die Bevölkerung


Originaltext auf Deutsch 

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Nach den ersten Teilerfolgen des vergangenen Jahres stellt sich die Frage, wie wir diese Bewegung auf lange Sicht aufrecht erhalten können. Nur gemeinsam können wir den nötigen Wandel herbeiführen!

Wir haben zweifellos viel erreicht im vergangenen Jahr. Zum ersten Mal gingen zehntausende Menschen regelmässig fürs Klima auf die Strasse. Das Klima hat sich zum Hauptthema im politischen Diskurs aufgeschwungen, um das niemand mehr herumkommt und die Wahlen zeigen eine Veränderung der öffentlichen Meinung auf.

Doch gerade die COP25 in Madrid (der UN-Klimagipfel im letzten Dezember) hat gezeigt, dass wir trotz allem noch immer unendlich weit davon entfernt sind, unsere Ziele zu erreichen. An der 14-tägigen Konferenz sind leider kaum nennenswerte Resultate hervor gekommen.

Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass die Konferenz im nächsten Jahr ihrem eigentlichen Sinn gerecht werden kann. Der aktuelle Trend weist nicht darauf hin, dass in der näheren Zukunft die weltweiten Treibhausgasemissionen sinken werden. Die Klimakrise stellt die Menschheit auf ihre bisher grösste Probe. Sie stellt die Frage, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, auf eine grundlegende Weise, doch uns fehlt noch immer der Mut, dieser Frage aufrichtig und rational zu begegnen.

Die tatsächlichen Erfolge blieben bisher aus, spätestens in diesem Jahr sollten unsere Treibhausgasemissionen beginnen zu sinken, der Trend geht jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Der Grossteil der Arbeit steht also noch vor uns.
Wir müssen davon ausgehen, dass es uns als Klimabewegung noch über mehrere Jahre hinweg brauchen wird. Nicht nur das, unsere Anstrengungen sollten sich deutlich intensivieren damit wir wirklich eine Klimakatastrophe und das bereits laufende sechste Massenaussterben einschränken können.

Die Klimastreik-Bewegung wurde vor gut einem Jahr von einer Handvoll Menschen angestossen und wird bis heute auch von einer eher überschaubaren Menge aus hauptsächlich Schüler*innen und Studierenden getragen. Von wenigen Menschen, die teilweise ihre Ausbildung unterbrechen und stattdessen ihre Zeit damit verbringen, Demonstrationen zu organisieren, Medienarbeit zu leisten und diese Bewegung am Leben zu halten.

Das Engagement sollte künftig auf viel mehr Schultern verteilt werden. Wir alle müssen uns die Frage stellen, wie wir weiter auf diesem Planeten leben wollen. Auch du sollst dich fragen wie du dich am Wandel beteiligen möchtest denn es betrifft genau dich, deine Menschen um dich herum und die Nachfolgenden Generationen.

Eine grosse nachhaltige Veränderung ergibt sich daraus, dass genau du dich mit den Menschen um dich herum organisiert, dass ihr gemeinsam versucht, etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen. Ihr könnt dies im Wissen darum tun, dass viele andere Menschen dies auch tun, ihr seid nicht alleine. Die Akkumulation vieler kleiner und grosser organisierter Menschengruppen, die gemeinsam diese Gesellschaft grundlegend verändern wollen, können den Umbau dieser Gesellschaft schaffen. Dies in dem sie ihn lokal in ihrer Gemeinde oder ihrem Quartier beginnen.

Springen wir noch ein Mal mehr als ein Jahr zurück: Dort hätte so gut wie niemand gedacht, dass ein Jahr später kurz vor den Wahlen eine Klima-Demonstration mit 100’000 Menschen stattfinden würde. Oder dass darauf ein Grünrutsch im Nationalrat folgen würde – eine solche Verschiebung hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.

Diese Ereignisse kommen nicht von Nichts. Eine Gruppe von Menschen ist fähig gemeinsam etwas zu kreieren was sie alleine nie geschafft hätten. Es ist mehr als die Akkumulation der einzelnen Handlungen, als Gruppe die etwas verändern will, können wir über uns hinauswachsen den durch, die gegenseitige Inspiration und die daraus resultierende Intelligenz ermächtigen wir uns, gemeinsam eine bessere Welt zu erschaffen.

Ich, du, wir alle müssen uns organisieren in unseren Gemeinden, in unseren Quartieren, an unserem Arbeitsplatz oder in der Schule, um dort die Gesellschaft aufzubauen, die wir uns wünschen: ökologisch, sozial und nachhaltig.

Deshalb ist es auch an dir, dich zu engagieren und zu vernetzen; dein Puzzlestück hinzuzufügen, es zu vergrössern, oder andere davon zu überzeugen, ihres hinzu zu legen. Gemeinsam können wir ein neues Bild dieser Gesellschaft schaffen. Es hängt von dir und allen anderen Leserinnen und Lesern dieses Magazins ab, ob wir den nötigen Atem für diese Reise haben werden.

Jetzt Konkret: Wie kannst du dich einbringen?

  • Geh auf strikeforfuture.ch/mitmachen/lokalgruppe-grunden/strikeforfuture.ch/xyz und informier dich, wie du ein Lokalkollektiv für den Streik am 15. Mai gründen oder einem beitreten kannst.
  • Bring dich in den Strukturen der Klimastreik-Regionalgruppen ein (climatestrike.ch/regionalgruppen). Hier musst du etwas hartnäckig bleiben, denn wir sind noch immer nicht gut genug organisiert, um den Einstieg so weit zu erleichtern, wie wir es gerne wollten. Aber wir sind dennoch auf dich angewiesen!
  • Wir wissen noch nicht, wohin uns der Weg führen wird. Zuschauen und warten ist jedoch keine Option mehr, es ist genau an dir, die Richtung dieser Bewegung mitzugestalten und den Wandel hin zu einer ökologischen, nachhaltigen und sozialen Gesellschaft mitzutragen.

Auch wenn wir nach der Lektüre dieses Magazins noch nicht eindeutig wissen, wie der richtige Weg aussieht, ist das kein Grund, passiv zu bleiben. Nichtstun ist in jedem Fall die falsche Option. 

Es gibt keinen Grund und keine Zeit, weiter zu zögern. Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben. Lasst uns diese einzigartige Chance nutzen, bevor sie vorbeizieht.

Fanny Wissler

Das, was wir hier tun, war noch nie so wichtig


Originaltext ist auf Deutsch

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Der Geruch meines dampfenden Ingwertees steigt mir in die Nase. Ich umklammer die heisse Tasse mit zittrigen Fingern und lasse meinen Blick nach draussen schweifen. Dicker Nebel hängt tief in den Strassen, umhüllt Laternen und Bäume und verschluckt umherstreifende Katzen. Dichte graue Schlieren ziehen sich durch die Gassen, ich kann nur schwache Umrisse einer vorbei eilenden Passantin erkennen. Ich kneife die Augen zusammen, immer enger, immer enger, doch eigentlich bin ich ganz froh, dass die furchigen Stirnfalten in den gestressten Gesichtern sich nicht in mein Gedächtnis einzubrennen vermögen. Ich drücke meine Nase an die eisige Fensterscheibe, atme tief ein und aus. Ein, aus. Ein, aus. Wie die Katze vom Nebel verschluckt wird, so verschmelze ich mit meinen eigenen Gedanken. Sie drehen sich im Kreis, immer und immer wieder drehen sie sich im Kreis.

Die heutigen Schlagzeilen, Dürre und Wirbelstürme, lodernde Waldbrände und Hungersnöte, die Erinnerung an jene von gestern und die Angst vor den morgigen vereinnahmen mich.

Ich fühle mich machtlos. Mit aller Kraft versuche ich mich seit Monaten aus einem verstrickten Gefüge zu befreien und so viele Menschen wie möglich auf meinem Weg mitzunehmen. Doch manchmal scheint es mir, als wollten meine Eltern, meine Nachbar*innen und Freund*innen mir gar nicht zuhören, als hätten sie kein Interesse daran, sich selbst und dem Rest der Welt zu helfen. Wir rasen mit 42 Gigatonnen CO2 pro Jahr auf einen Abgrund zu, und niemand scheint die Geschwindigkeit reduzieren zu wollen – oder zu können. Es zerreisst mich zu merken, dass sich die Menschen von Normen und Mustern der Gesellschaft und Manipulationen der mächtigen Grosskonzerne und Finanzinstituten steuern lassen wie ich mich von meinem Gedankenspiel. Sie fühlen sich persönlich angegriffen, wenn ich mir verzweifelt Gehör verschaffen will. Wieso meinen sie, dass ich ihnen etwas wegnehmen, vergönnen oder sie verraten will?

Ich blicke in das wirre Grau hinaus. Erinnere mich selbst an Sisyphos, der ewig einen Felsblock auf einen Berg hinauf wälzen muss, welcher, fast am Gipfel angekommen, immer wieder ins Tal zurückrollt. Bei jedem Aufprall auf dem Boden reisst der Stein Menschen in die Armut, nimmt ihnen Land, Wasser, Fruchtbarkeit, Heimat. Nimmt ihnen die Hoffnung auf ein gerechtes Leben, dort unten, am Fusse des Berges, im Süden. Ich fühle mich verantwortlich, den Brocken zu stemmen, ihn mit aller Kraft nach oben zu hieven. Doch immer wieder schneiden mir die Kanten und Spitzen meiner Last Wunden in die Hände, bis der Schmerz lauter schreit als meine Utopie.

Ich blicke in das wirre Grau hinaus. Erinnere mich an die entschlossenen Gesichter, die sich Schulter an Schulter gegen die ungerechte, zerstörerische Politik der Geldgierigen wehrten. Die abschätzigen Sprüche hallen in meinen Ohren nach, die fragenden Gesichtsausdrücke und mitleidigen, belächelnden Blicke, die mir zugeworfen werden, wenn ich von meinem Aktivismus erzähle, lassen mich erschaudern. Ob ich auch etwas Ernsthaftes im Leben leiste, fragen sie. Sie fragen, wie man denn den lieben langen Tag nur fürs Klima kämpfen könne. Ich bin darauf angewiesen, mich in diesem System, das uns an die Wand fährt, zurechtzufinden. Ich darf und will nicht marginalisiert, eliminiert werden. Und ich weiss, wie privilegiert ich bin. Das macht es nicht einfacher. Wenn ich scheitere, dann habe ich das Gefühl, es liege nur an mir. Wenn ich verwirrt und orientierungslos bin, mich nicht aus dem Bett quälen kann, dann meine ich, es sei einzig und allein meine Schuld. Ich könnte so frei sein, aber ich kann nicht. Ich denke an die gleichgültigen Masken derjenigen, die nur am Strassenrand standen, den Demozug beobachteten und ihr Handy zückten für einen neuen Post auf ihrem Instagramprofil. Mein Herz wird schwer. Es schlägt in grossen Abständen, dumpf und resigniert.

Ich nippe an meinem Tee. Die Hitze verbrennt mir die Lippen. Ich zucke zurück. Fluche kurz. Dann hebe ich meinen Blick. Der Nebel schwindet allmählich. Der Geschmack brennenden Ingwers weicht der Süsse des Dattelsirups auf meiner Zunge. Plötzlich werden die Bilder der Frustration abgelöst von Eindrücken der Kraft und des Kampfgeistes. Das euphorische Leuchten in den Augen kleiner Kinder, die zwischen farbigen Pappschildern und riesigen Transparenten hin- und herspringen, taucht vor meinem inneren Auge auf. Barfuss tanzen sie zu kräftigen Melodien, die aus den riesigen Lautsprechern dröhnen – Träume der Revolution erklingen. Mut überkommt mich. Mut und das starke Gefühl, dass jede Enttäuschung, jede Niederlage, jede Verzweiflung und jede Hoffnungslosigkeit niemals genug sind, um mich davon abzuhalten, weiter zu kämpfen und für meine Vision einer besseren Welt einzustehen. Ich will dieses Gemeinschaftsgefühl erleben, das mich packt, wenn wir von grünen Visionen träumen und rote Fahnen schwingen. Wenn wir bis tief in die Nacht Demonstrationen und Aktionen vorbereiten, Pläne schmieden und hitzige Diskussionen führen. Will Teil der Menschen sein, die wissen, dass sie das Richtige tun. Mich zugehörig fühlen zu denjenigen, die die Mächtigen von ihrem Thron stossen – die Mächtigen, die auf der Welle des Reichtums reiten und dabei jeden Verlust in Kauf nehmen. Das, was wir hier tun, war noch nie so wichtig. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer dann?

Vor meinem Fenster spaziert eine ältere Dame vorbei, auf den Stock gestützt. Ein zufriedenes Lächeln umspielt ihre Lippen. Ich muss meine Augen nicht zusammenkneifen, um zu erkennen, dass am Ärmel ihrer Jacke ein vertrauter Kleber aufblitzt. «Make Love, Not CO2», steht da.

Leonie Traber, 18, Klimaaktivistin, Mitglied der JUSO

Analyse einer historischen Bewegung: die schwarzen Fäuste von Otpor


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Wie erreicht eine Bewegung ihre Ziele? Diese Frage bleibt ohne Antwort. Wir können uns aber von vorherigen Bewegungen beeinflussen lassen, indem wir ihre Evolution und Strategien analysieren. Nehmen wir als Beispiel die serbische Bewegung Otpor.

Slobodan Milosevic

Otpor wird 1998 gegründet. Zu dieser Zeit gehört Serbien zur Föderativen Republik Jugoslawien, betroffen von den jugoslawischen Kriegen, die mit Präsident Milosevic, im Anschluss an die Unabhängigkeitserklärung von Kroatien und Slowenien, begannen.

Milosevic wird schnell vieler Tatsachen beschuldigt : Kriegsverbrechen in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina, Völkermord und Korruption. Infolgedessen wurde rasch erkannt, wie ernsthaft die Situation war, einen Mann wie Milosevic an der Macht zu haben.  

Ausgangspunkt : die Universität von Belgrad

1998 hat Marianovic ein umstrittenes Gesetz verabschiedet : „The University Law“, welches die Autonomie der Universität von Belgrad beeinträchtigte. Im Oktober 1998 wurde dann die Volksbewegung Otpor gegründet. Am Anfang bestand sie hauptsächlich aus jungen Mitgliedern der demokratischen Partei und einigen, in Serbien aktiven Nichtregierungsorganisationen, sowie Studenten der beiden öffentlichen Universitäten von Belgrad.

Die erste Forderung der Gruppe war der Rücktritt des Dekans der Universität von Belgrad, welchem vorgeworfen wurde, die repressive Politik des Regimes zu fördern. Danach erregte die erste Aktion von Otpor Aufmerksamkeit. Vier Studentenaktivisten malten schwarze Fäuste auf die Fassaden der Universität. Sie wurden deshalb verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil ist vom Volk nicht unbemerkt geblieben und für die Situation als unpassend betrachtet worden. Nach dem Widerruf des Dekans folgt eine Verbreitung der Bewegung im ganzen Land. Das war der erste Sieg der Bewegung.

Die Strategien und Werte von Otpor

Die ersten Taten von Otpor waren Protestakte und hatten zum Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen. So „schmückten“ die Aktivisten zum Beispiel nachts die Mauern der Stadt Belgrad mit auffälligen Slogans. Danach wurde ihre Handlungsweise, gestützt auf folgenden drei Grundlagen,  ausgearbeitet:

  1. Einheit: Das Verhältnis zwischen den Mitgliedern von Otpor war auf einer horizontalen Struktur aufgebaut. So wurde die Gleichstellung unter den Aktivisten gewährleistet. Das Ziel war, als einheitliche Organisation dem serbischen Präsidenten gegenüber zu stehen.
  2. Gewaltlose Disziplin: Dank dieser Haltung war die Meinung des Volkes Otpor gegenüber eher positiv, wodurch dann der Rekrutierungsraum erweitert werden konnte. Die zukünftigen Aktionen konnten mit diesem Image auch leichter organisiert werden.
  3. Planung: Die Erklärung über die Zukunft von Serbien ermöglichte die Organisation der Bewegung. In diesem Dokument konnten sich alle Mitglieder von Otpor über die Handlungsmethoden, die zu erreichenden Ziele und die zu lösenden Probleme, informieren. Dank der Planung wurden Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern sowie Identität und Wille der Bewegung für alle klar und deutlich sichergestellt.

Die von der Bewegung gemeinsam bestimmten Ziele waren die Demokratisierung von Serbien und der Sturz der Regierung von Milosevic. Dank dieser Grundfeste konnten sich die verschiedenen Strategien der Bewegung entwickeln.

Offensives Vorgehen : Otpor begann mit symbolischen Aktionen die Aufmerksamkeit des Volkes zu erwecken. Dieses offensive Vorgehen entsprach der Organisation von konkreten Aktionen. Sie organisierten die Aktionen so, dass die verschiedenen, im ganzen Land zu verteilenden Aufgaben in einem Aktionsplan aufgelistet wurden, um damit das Spektrum der Regierungsgegnern zu erweitern und die strategischen Vorschläge ausländischer Unterstützungen zu berücksichtigen. So konnten sie diese Taktiken ihrer Situation anpassen. Dank dieser Methode und der vielen konkreten und klaren Aktionen, konnten die verstreuten Aktivisten gegenüber der Politik von Milosevic vereint und koordiniert handeln. Otpor machte dem Volk klar, dass ein Regierungswechsel unvermeidbar war. 

Stärke in der Anzahl: Otpor hatte begriffen, dass der Sieg über Milosevic nur möglich war indem sich die Gegner vereinigten. Deshalb wollte die Bewegung erstmals mit sehr vielen Aktivisten zusammenarbeiten. Um die Ränge zu erweitern, hat Otpor Popularisierungskampagnen organisiert, insbesondere im Jahre 1999, indem sie auf Plakaten, bekannte Darsteller mit erhobenen Fäusten zeigten. Die Stärke lag in der Anzahl. 

Ausnutzung der Wahlen: Otpor hat von den serbischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 profitiert. Die Strategie bestand aus drei Teilen. Sie nutzen den Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung von Milosevic aus, um alle serbischen Bürger zu mobilisieren. Dann überzeugten sie die serbische Jugend, welche zu diesem Zeitpunkt kein Interesse für die Politik zeigte, abzustimmen. Die Vision der Einheit wurde wieder aufgegriffen, der Widerstand gegenüber Milosevic durfte nicht gespalten sein. Schlussendlich hat Otpor die hauptsächlichen Fehler der Politik von Milosevic deutlich hervorgehoben, um zu verhindern, dass diese in den zukünftigen Wahlkampagnen wiederholt wurden.

Das Image der Bewegung: Einerseits gab die Bewegung ein positives Bild von sich, um die Rekrutierung der Aktivisten zu beschleunigen und die Unterstützung des Volkes zu erhalten. Die Bewegung stand da wie ein Opfer der politischen Autorität. Sie wurde sogar wegen ihrer gewaltlosen Disziplin verspottet, wie C.Miller(Spencer 2001) sagte : „Als Kinder in den kleinen Städten verhaftet wurden […], die Leute wussten dass die Kinder aus der Nachbarschaft keine Terroristen waren“. Mit diesem positiven Bild zeigte sich Otpor dem Volk als eine erfolgreiche Bewegung. Auf der anderen Seite organisierten sie negative Kampagnen, um in einer humorvollen Art die Absurdität der Regierung zu betonen. Dies lockerte die Stimmung innerhalb der Bewegung auf.

Entwicklung der externen Unterstützung: Otpor bestand aus einer grossen und verschiedenartigen Mitgliedergruppe und erhielt auch Unterstützung externer Bewegungen. Es ging hier um Entwicklung und Öffnung. Einige strategische Siege von Otpor konnten so dank externer Hilfe errungen werden, zum Beispiel mit der Beanspruchung von nationalen und internationalen Meinungsinstituten und Kommunikationsagenturen, um die Strategie der Kommunikation (Verteilung von Flugblättern und Klebern) zu optimisieren. 

Kommunikationsstrategie: Die Kommunikationsstrategie wurde hauptsächlich während den Wahlen angewendet. Die erste Kampagne hatte zum Ziel dem Volk zu zeigen, dass ein Regierungswechsel mit Demonstrationen des Volkes unvermeidbar war. Die zweite Kampagne bestand darin, die Jugend zum Abstimmen zu bewegen.

Weshalb war Otpor erfolgreich ? 

Die Bewegung hatte ihre Ziele erreicht. Milosevic wurde an den Präsidentschaftswahlen vom 5 Oktober 2000 mit seiner Regierung gestürzt. Die Demokratisierung von Serbien begann mit der Wahl von Kostunica, welcher der demokratischen Oppositionspartei Serbiens angehörte.

Welche Strategien waren am erfolgreichsten? In erster Linie war die Tatsache, dass die Ziele klar definierte wurden, am wichtigsten. Die Bewegung zeigte dem Volk nicht nur ihren Willen sondern auch ihre Entwicklung und Fortschritte. Otpor gelang es, innerhalb der Bewegung, mit allen die gleichen Werte zu teilen : Einheit, Toleranz und Gewaltlosigkeit. Dadurch konnten, innerhalb Otpor, gewisse Regeln festgesetzt werden. Ferner stützte sich die serbische Bewegung in ihrer Funktion auf die Planung der Aktionen und die Verteilung der verschiedenen Aufgaben. Alle diese Aktionen hatten ein bestimmtes Ziel. Schlussendlich gehörte die Bewegung wegen ihrer Popularität zur serbischen Mainstream Kultur.

Das Ende der Bewegung

Nach den Wahlen im Jahre 2000 nahmen die Aktionen und die Mitglieder der Bewegung nach und nach ab. Otpor fuhr trotzdem weiterhin fort, die Politik zu überwachen, insbesondere um jegliche Korruption zu verhindern. 

Nach Bekanntgabe der Parlamentswahlen vom 23. Dezember 2003, wird Otpor am 19. November eine politische Partei, ohne offiziell einen Parteivorsitzenden zu nominieren. Während den Wahlen erreicht Otpor jedoch nicht die nötigen 5% um ins Parlament zu kommen. 

Im Jahre 2004 ist das Ende von Otpor, die Bewegung wird ein Teil der demokratischen Partei Serbiens. Einige empfanden dies wie ein Scheitern der Bewegung. 

Das Erbe von Otpor

Zusätzlich zu seiner hauptsächlichen Rolle beim Sturz von Milosevic, wurde Otpor zum Vorbild für andere jugendliche Bewegungen in Osteuropa. In der Tat konnten die, im zivilen Widerstand ausgebildeten Mitglieder von Otpor, Mitglieder verschiedener Bewegungen in den Nachbarländern ausbilden.

Die Bewegung hatte auch die Organisation und Planung einiger Revolutionen des arabischen Frühlings geprägt, zum Beispiel indem sie den jungen Bewegungen in Ägypten halfen.

Schlussfolgerung

Otpor war strategisch, effizient, klar, offen, gewaltlos und vereint. Seine Laufbahn war im Allgemeinen positiv und erfolgreich. Sogar einige Jahre danach waren die Aktivisten eine Inspiration für andere. Einige Fragen bleiben ohne absolute Antwort: Was ist mit dem Ende von Otpor und seinem politischen Morphing? Wie weit kann man auf diese Art zusammenarbeiten? Wie kann man ein solches Erbe hinterlassen und sein Wissen vermitteln?

Mila Frey, Aktivist/in