Occupy Wall Street – Was der Klimastreik lernen kann


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Der Klimastreik ist an einem kritischen Punkt angelangt: Wie soll es weitergehen? Welche Strategien und Ideen nach der ersten Aufmerksamkeit noch Erfolg haben könnten und welche nicht, zeigt der Blick auf eine andere soziale Bewegung: «Occupy Wall Street».

Vielen nur als Occupy bekannt und in diesem Artikel auch so abgekürzt, wurde die Bewegung Occupy Wall Street im September 2011 ins Leben gerufen. Angeregt wurden die Proteste durch die Besetzung des Tahrir-Platzes in Ägypten im Zuge des arabischen Frühlings und einen Blogpost der kanadischen Mediengruppe Adbusters Media Foundation, deren gesellschaftskritisches Magazin in ganz Amerika bekannt ist, welches zur Besetzung der Wall Street aufgerufen hatte. Der Tahrir-Platz in Kairo wurde zum einen besetzt, zum anderen jedoch auch als Kundgebungs- und Demonstrationsort benutzt, weshalb er eine spezielle Symbolik für die Occupy-Bewegung besass, die diese beide Protestformen vereint. Die Demonstrant*innen schlugen daher auf dem nahe gelegenen Zucottipark ihre Zelte auf, um für einen Ausgleich der sozialen Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine stärkere Kontrolle des Finanzwesens und eine wirtschaftsunabhängige Politik zu kämpfen. Aus dieser physischen Besetzung, der «occupation» öffentlicher Plätze wurde ein Symbol: Aus Orten mit hohem ökonomischen Symbolwert wurden Orte des Zusammenseins und der Gleichberechtigung. Fortan war der Schlachtruf «We are the 99 percent!», ein Ausdruck dafür, dass diese Bewegung von der breiten Masse unterstützt wurde, immer häufiger zu hören und zu sehen. Durch einige gewalttätige Zwischenfälle seitens der Polizei steigerte sich die Solidarität unter den Protestierenden. Twitter war dabei ein wichtiges Mittel, um der Frustration Ausdruck zu verleihen, und gleichzeitig die gesamte Welt über die Sachlage zu informieren.

Die Aufmerksamkeit erreichte einen vorläufigen Höhepunkt, nachdem sich einige Demonstrant*innen bei einer Kundgebung auf der Brooklyn Bridge auf die Fahrbahn begeben hatten, und die Polizei daraufhin eingriff. Dutzende wurden festgenommen, was wiederum den Widerstand vergrösserte. Die anfangs lokale, amerikanische Protestbewegung breitete sich mithilfe der sozialen Medien innert kürzester Zeit auf internationaler Ebene aus. Die Kritik an den internationalen Konzernen fand nach der Wirtschaftskrise von 2007 allgemeine Zustimmung. Noch vor Wintereinbruch 2011 wurde in 82 Ländern und 911 Städten auf allen fünf Kontinenten protestiert.

Occupy hatte eine sehr starke Eigendynamik entwickelt und konnte die Sympathien von Persönlichkeiten wie Barack Obama gewinnen, doch all dies konnte nicht verhindern, dass die Bewegung so schnell, wie sie gekommen war, auch wieder verschwand. Zwar existierten letzte internationale Ableger der Bewegung noch bis ins Jahr 2014, doch schon 2012 hatte Occupy nicht mehr an die anfänglichen Erfolge anknüpfen können. Es ist klar, dass Occupy in puncto medialer Aufmerksamkeit eindeutig erfolgreich war. Wie viel dieser kurzweilige Fokus der Öffentlichkeit nun aber konkret verändert hat, darüber lässt sich streiten. Fest steht, dass sich das amerikanische Finanzwesen keineswegs reformierte, der globale Kapitalismus genauso präsent ist. Die Frage der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit ist drängender denn je. Dennoch kann auch nicht behauptet werden, die Proteste hätten nichts bewirkt. Zahlreiche (jedoch weitaus kleinere) «Grassroots»-Bewegungen rund um soziale Fragen haben ihren Ursprung in Occupy, und beeinflussen so das politische Geschehen zwar nicht auf globaler, dafür aber definitiv auf lokaler Ebene.

Das grösste Problem von Occupy war, dass die Bewegung nie konkrete Forderungen im Sinne eines Manifests oder eines offiziellen Forderungskataloges festlegte. Vielmehr war die Kritik zu allgemein, keine konkreten Adressat*innen vorhanden, die Bewegung zu unorganisiert. Was also fördert in einer Bewegung nachhaltigen Aktivismus, der nicht nach einer kurzen, aber hochintensiven Phase abflacht, sondern beständig bleibt, bis die gesetzten Ziele erreicht werden? Wenn wir dies im Hinblick auf die aktuelle Situation betrachten, müssen wir uns die Frage stellen: Gibt es einen Punkt, an dem die kollektive Nostalgie, der mediale «Klima-Hype» grösser wird als die Bewegung selbst? Obwohl die Klimastreiks zahlenmässig bereits die Proteste von Occupy übertreffen konnten, lohnt es sich, von den Erfahrungen anderer zu profitieren. So wurden beispielsweise die Handzeichen des Klimastreiks, die eine einfachere und direktere Kommunikation in grossen Gruppen ermöglichen, von Occupy übernommen. Auch der Verlauf der Proteste wurde genauer analysiert, um sich in den Anfängen der Bewegung irgendwie orientieren zu können. Nun sind wir jedoch an einem anderen Punkt, haben selbst erlebt, wie Proteste wirken können, und welche immense Organisation «hinter den Kulissen» vonnöten ist. Es wird Zeit, die Strategien des Klimastreiks mit denjenigen von Occupy zu vergleichen, aus den misslungenen Taktiken zu lernen und die erfolgreichen zu adaptieren. 

Sowohl im Klimastreik als auch bei Occupy existieren verschiedenste Vorstellungen, wie etwas erreicht werden soll. Dafür war oder ist aber das gemeinsame Ziel umso verbindender: Bei Occupy war dies die Überwindung des Kapitalismus in der aktuellen Form, beim Klimastreik die Abwendung der Klimakrise, was schlussendlich auch eine andere Wirtschaftsform bedingt. Derartige Ziele sind riesig, betreffen verschiedenste Lebensbereiche, müssen global angegangen werden, und sind daher für viele Menschen nur schwer fassbar. Deswegen ist es umso wichtiger, konkrete Vorschläge und Forderungen für die Allgemeinheit so deutlich wie möglich aufzuzeigen, also transparent zu kommunizieren. In eben diesem Punkt scheiterte Occupy. Heute, knapp neun Jahre später, stehen uns mit den unterschiedlichsten Social-Media-Kanälen immer mehr neue Plattformen zur Verfügung, um mit Menschen in Kontakt zu treten. Doch auch das alleine reicht nicht. Das kontinuierliche Aufbauen von Druck ist entscheidend: Da die Arbeit mit unseren drei Hauptforderungen nicht getan ist, ist die Ausarbeitung des Climate Action Plan umso wichtiger, um selbst aufzeigen zu können, wo die Gesellschaft jetzt handeln muss.

Eine weitere Gemeinsamkeit dieser beiden (und eigentlich aller) Bewegungen: Je mehr Menschen sich physisch beteiligen, desto grösser der Effekt auf die Medien- und Politiklandschaft. Doch da Massendemonstrationen zum einen nicht immerzu zahlenmässig zulegen können und sich zum anderen nach einer gewissen Zeit normalisieren, braucht der Klimastreik zusätzliche, neue Ausdrucksformen. Occupy hörte an diesem Punkt auf: Gewagt wurde weder der Schritt in die institutionelle Politik (auch wenn mit Bernie Sanders ein Präsidentschaftskandidat unterstützt wurde), noch ging Occupy weiter in die Offensive mit Aktionen des Zivilen Ungehorsams. Solche Aktionen haben eine unglaubliche Strahlkraft und sind, sofern sie gewaltfrei verlaufen, immens wichtig.

Was ist der nächste konkrete Schritt? Ist es letztendlich gar nicht die fehlende Triebkraft von Occupy, sondern vielmehr ein sehr geringer Handlungsspielraum in unserem demokratisch-kapitalistischen Staatssystem, welche eine Fortführung der verlangten Forderungen verunmöglicht?

Wie kann man dieser gewaltigen Maschinerie des Staates trotzdem entgegenwirken? Eine Option ist es, sich mit anderen Interessensgemeinschaften zusammenzuschliessen, und so eine grössere Reichweite zu erzielen. Immens wichtig war im Zusammenhang mit der Solidarisierung von Occupy eine öffentliche Skandalisierung und das Empören gegenüber moralischen Verstössen. Die emotionale Wertbildung einzelner Menschen bestimmt also, wie erfolgreich eine Bewegung schlussendlich sein kann, da diese die kollektive Identität prägt. Wie aber kann eine kollektive Identität geformt werden?

Den Fokus zu behalten, sich auf ein Ziel zu besinnen, das ist hierbei essentiell. Denn nur so kann die gesammelte, aus den Demonstrationen, Streiks und anderen Aktionen gewonnene Energie auch geballt eingesetzt werden. Mit Richtung. Und Ziel. Im Chaos an Chats, Organisation von Events, Interviews, Zeitungsartikeln und nebenbei Schule, Arbeit, Freund*innen und Familie verlagert sich der Schwerpunkt vom eigentlichen Zweck des Klimastreiks auf andere Themen, die an sich auch wichtig sein mögen, uns an diesem Punkt aber nicht weiterbringen. Dabei ist das Potenzial riesig: Innerhalb kürzester Zeit ist eine Plattform entstanden, die Menschen mit einem ähnlichen inneren Antrieb, einer unendlichen Motivation für das, was sie als das Wichtigste erachten, zusammenführt. Dies ermöglichte Diskussionen. Und Aktionen. Doch wir bewegen uns mit unglaublich grosser Geschwindigkeit, und das nicht nur zufällig, denn die Zeit drängt. Hier sollte Vorsicht geboten werden: Im Falle von Occupy war die rasante Vergrösserung der Bewegung und die daraus resultierende Medienwirksamkeit einer der Hauptgründe für das ebenso schnelle Ende des Kollektivs. Eine eigene, klare Struktur, ein fester Platz in der Gesellschaft, fehlte.

Links: Anja Gada, 18, zurzeit Zwischenjahr-Aktivistin, vielleicht auch für immer

Rechts: Flurin Tippmann, 19, Hobbyphilosoph, mag Tierdokumentationen und Rap

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