Braucht es einen Systemwechsel?

Zwei Meinungen zum Leitthema dieser Ausgabe des Magazins einander gegenübergestellt. Bei einem Punkt sind sich Florian Skelton und Vincent Seiler einig: Die Debatte ist wichtig und braucht Platz.

Was funktioniert heute nicht? Wo liegen die Probleme?

Florian: Der Weltklimarat IPCC warnt eindringlich vor einer globalen Erhitzung von mehr als 1.5 °C gegenüber der vorindustriellen Zeit. Es ist kein Zufall, dass sich der Kapitalismus in dieser Zeit als dominantes Wirtschaftsmodell durchsetzen konnte. Das Wachstum, auf welches der Kapitalismus angewiesen ist, wäre ohne industrielle Maschinen und fossile Energieträger nicht möglich gewesen. Der Einsatz von diesen fossilen Energieträgern wurde und wird erst von Unternehmungen mit entsprechendem Kapital ermöglicht, dessen Besitz und Kontrolle sich in privaten Händen befindet. Dies ermöglichte ein rasantes materielles Wachstum, in welchem die anfallenden Profite wiederum verwendet wurden, um weiteres Wachstum zu befeuern und Profite zu generieren.

Problematisch sind an dieser Art der Produktion mindestens zwei Aspekte. Erstens verhindert der Wachstumszwang die Möglichkeit, Grenzen des Wachstums und der Ausbeutung der Natur demokratisch festzulegen. So gerät die kapitalistische Logik des Wachstums in krassen Widerspruch zur Notwendigkeit einer Reduktion der Produktion und den damit einhergehenden CO2-Emissionen. 

Zweitens schliesst die kapitalistische Art des Wirtschaftens alle Beteiligten und Betroffenen der Produktion von einer demokratischen Mitbestimmung aus. Diese haben keine nennenswerten Möglichkeiten, die (klimarelevanten) Entscheide eines Unternehmens zu beeinflussen. Indem Eigentum und Entscheidungsmacht einigen wenigen Privaten überlassen wird, sind ganze Teile der Wirtschaft von der Demokratie und ökologischen Überlegungen ausgeschlossen.

Vincent: Es gibt viele Probleme, so gut wie überall. Kein Land ist klimaneutral und trotzdem schreiten Regierungen und Bevölkerung nur langsam bis gar nicht zur Tat, obwohl die Zeit drängt. Ein anerkannter Weg, die lethargische Einstellung vieler Menschen zu bekämpfen, ist Druck auf die Politik auszuüben. Durch positive, mediale Präsenz von Aktionen ist das Thema omnipräsent geworden. Trotzdem sind Veränderungen bis jetzt eher marginal vorzufinden. Und hier sehe ich das Hauptproblem: Um zentrale Entscheidungen zu treffen, marktkonforme staatliche Eingriffe zu fördern und wegweisende Gesetze zu erlassen, benötigen wir (vor allem in einer direkten Demokratie wie der Schweiz) eine Mehrheit, welche den Gedanken einer nachhaltigen Welt teilt. Diese Mehrheit haben wir in der Bevölkerung und in der Politik nicht. Was wir also brauchen, ist ein Umdenken in den Köpfen vieler Bürger*innen und Politiker*innen. 

Wie sieht deine Alternative zum Status quo konkret aus? Wieso sollte sie funktionieren?

VincentWie bereits erwähnt: Die wichtigste Änderung — bevor man überhaupt über einen Wandel unseres gesamten Wirtschaftsystems nachdenkt — ist die Entwicklung von nachhaltigem Denkens in der Politik und in der Bevölkerung. Aktionen können helfen, dieses Ziel zu erreichen — wenn sie durchdacht sind. Einen Fussballplatz zu stürmen, macht für mich keinen Sinn, denn eine Spielverzögerung kommt nicht bei allen Fans gut an: Wir verlieren mögliche Sympathisant*innen. Solche Aktionen mit negativem Beigeschmack sollten wir zukünftig vermeiden. Zudem ist es wichtig, dass der Klimastreik politisch unabhängig bleibt. Auch wenn es Überwindung braucht, mit den politischen Gegnern zu kooperieren und vielleicht sogar seine eigenen Interessen vorerst etwas zu vernachlässigen,  ist es essentiell, um mehrheitsfähig zu werden. Diese Mehrheiten gewinnen wir in der Politik durch ambitiöse, und nicht extreme Forderungen, wie es der Systemwandel ist. Ganz abgesehen davon, dass eine komplette Ummodellierung des Systems alles andere als schnell geht, ist hier mit heftiger politischer Gegenwehr zu rechnen, im Inland wie im Ausland. Dazu kommt: Bis die Systemkritiker*innen in unserer Bevölkerung eine Mehrheit haben, haben wir zu viel Zeit verloren. Die Umsetzung eines Systemwandels durch die Minderheit, die ihn momentan fordert, würde die Grundbausteine unserer Demokratie zerstören. 

Florian: Es gibt zahlreiche ökologische Wirtschaftssysteme, die auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmas mit der kapitalistischen Logik von Wachstums-, Profit- und Konsumzwang brechen: Ökosozialismus, grüner Anarchismus, Degrowth, demokratischer Konföderalismus und einige mehr. Sie einzeln vorzustellen und meine eigene Präferenzen darzulegen würde einige Artikel mehr brauchen, doch sie verfolgen grob gesagt ähnliche Ziele. Die Produktion muss sich grundlegend verändern; es wird weniger gearbeitet, doch dafür ist die Arbeit direkt auf die Bedürfnisse aller Menschen ausgerichtet. Die Demokratie wird durch kollektive Mitbestimmung statt privater Kapitalmacht vertieft. Die nun erzielten Profite müssen nicht systembedingt in weiteres Wachstum investiert werden, der Individualverkehr wird drastisch zugunsten einem ausgebauten öffentlichen Verkehr zurückgefahren, die Agrarindustrie durch ökologischen Landbau ersetzt und die Rüstungsproduktion abgeschafft, um nur mal einige Aspekte zu nennen.

Schliesslich sollten wir die Frage «Was funktioniert?» nicht im luftleeren Raum, sondern ausgehend von den heutigen Verhältnissen diskutieren. Und es ist dieser Status quo, den ich eben beschrieben habe, der in den vergangenen Jahrzehnten trotz eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht in Lage war, entsprechend zu handeln.

Florian, ist ein Systemwandel politisch machbar in brauchbarer Frist? 

Florian: Unabhängig davon, welche Visionen wir für die Zukunft hegen, ist uns allen in der Bewegung klar, dass unser Kampf sehr hart ist und wir nur noch sehr wenig Zeit haben. Einer Wirtschaft mit krasser Ungleichheit und Machtkonzentration stehen Parlamente gegenüber, die unter den Bedingungen des globalisierten Finanzwettbewerbs immer stärker nur reagieren und nicht agieren können. Wenn ich nun also sage, dass ein Systemwandel politisch machbar ist, beziehe ich mich nicht auf das, was man üblicherweise als politisch versteht, sondern auf die politische Kraft, die aus dem Zusammenschluss von jungen Menschen, Arbeitenden, Bäuerinnen und Bauern und vielen weiteren Aktivist*innen entstehen kann. Erst durch kollektives und selbstbestimmtes Handeln werden wir tiefgreifende Veränderungen in unserem Sinne erkämpfen können; die Zukunft entscheidet sich nicht an der Urne.

Vincent, ist ein Wandel ohne grundsätzliche Veränderungen der ökonomischen Spielregeln machbar in brauchbarer Frist?

Vincent: Vieles am jetzigen System funktioniert gut, aber natürlich ist es nicht in all seinen Belangen optimal und jede*r würde gerne seine Anpassungen daran vollführen. Doch das geht zu lange. Nur schon beim Bau neuer Wasserkraftwerke oder bei der Bewilligung von Innovationen ist mit dutzenden von Einsprachen zu rechnen. Selbst der Bau von Photovoltaik kann von Anwohner*innen oder dem Denkmalschutz abgelehnt werden. Die Bürokratie verzögert häufig wichtige Veränderungen, was bei einer Thematik mit dieser Dringlichkeit ein riesiges Problem darstellt. 

Um auf die Frage zurückzukommen: Ist die Mehrheit, von der ich immer spreche, erreicht, und werden wichtige Entscheide nicht behindert, so ginge die Auferlegung marktkonformer staatlicher Eingriffe relativ schnell. Dabei müssen weder ökonomische noch andere Freiheiten eingeschränkt werden. 

Letzte Frage: Offensichtlich gehen die Meinungen zum Thema auseinander —  in der Bevölkerung sowie in der Bewegung. Doch die Zeit drängt. Wie sollen wir mit dieser Zerreissprobe umgehen?

Vincent: Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten in der Bewegung, diese sollen auch miteinander geteilt und sofern möglich ausdiskutiert werden. Wichtig finde ich jedoch, dass der Klimastreik gegen aussen als Einheit auftritt. Offen zur Schau getragene Uneinigkeiten resultieren in Aussagen wie «das sind ja sowieso nur Kinder, die verstehen nichts von Politik». 

Und in der Bevölkerung braucht diese Debatte ebenfalls Platz. Auch wenn wir uns nicht einig werden, lernt man aus jedem Gespräch wieder etwas Neues. Nur: Solange nicht die Mehrheit der Bevölkerung einen Systemwandel fordert, bleibt uns nichts anderes übrig, als Veränderungen im jetzigen System vorzunehmen. Die Gespräche und Debatten müssen wir parallel dazu aber auch führen.  

Florian: Die Auswirkungen unseres als alternativlos dargestellten Wirtschaftssystems auf die Natur werden immer noch kleingeredet. Ich finde es deshalb wirklich wichtig, dass diesen längst überfälligen Diskussionen endlich Platz eingeräumt wird. Ich möchte Teil einer Bewegung sein, die sich bewusst ist, dass der Kampf fürs Klima auch soziale Kämpfe miteinschliessen muss – denn ich möchte nicht für eine Zukunft einstehen, die mit weniger CO2-Emissionen auskommt, in der aber Rassismus, Sexismus, Krieg und Ausbeutung weiterhin an der Tagesordnung sind. Und so bin ich überzeugt, dass sich in einer solch breiten Front auch abweichende Meinungen zu einer politischen Kraft entwickeln können.

Florian Skelton und Vincent Seiler

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