Eine Postwachstumsutopie

Der Sozialpsychologe Harald Welzer stellt gerne die Frage: «Was wollen wir gewesen sein?» Das der Frage zugrundeliegende Gedankenspiel ermöglicht es, darüber zu reflektieren, auf welche Errungenschaften wir zukünftig stolz sein möchten. Werden wir es rückblickend gutheissen, jahrelang unter Dauerstress Vollzeit gearbeitet zu haben? Und das nur für einen Materialismus, der die Klimakrise weiter anheizte?

2011 veröffentliche die australische Krankenpflegerin Bronnie Ware das Buch «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen». Darin trägt sie zusammen, was ihre ehemaligen Patient*innen vor ihrem Hinscheiden am meisten bereuten, wenn sie auf ihr Leben zurückblickten. Dazu zählten zwei Dinge, die miteinander zusammenhängen. So bedauerten sie zum einen, zu viel gearbeitet zu haben; zum anderen wünschten sie, soziale Kontakte mehr gepflegt zu haben. Institutionelle Strukturen spielen vor allem hinsichtlich des ersten Punktes eine grosse Rolle bezüglich der Entfaltungsmöglichkeiten: Kann man es sich finanziell überhaupt leisten, Teilzeit zu arbeiten und so mehr Zeit für soziale Kontakte zu haben?

Die politisch-institutionellen Ursachen für stressige Lebensläufe sind wiederum im Kern unserer heutigen Wirtschaftsweise zu finden, deren massgebliches Ziel das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist. Während das BIP ein quantitatives Mass ist, das den Wert aller Waren und Dienstleistungen misst, die innerhalb eines Jahres im Inland produziert wurden (abzüglich aller Vorleistungen), wurde es im Laufe der Nachkriegszeit sukzessive umgedeutet. So wird es heute nahezu durchweg als qualitatives Mass angesehen – und zwar des gesellschaftlichen Wohlstands wie des individuellen Wohlbefindens. Es wird angenommen, dass eine Steigerung des BIP zwangsläufig zu einer Steigerung des Wohlbefindens führt. Wenngleich dieser Zusammenhang bereits vor mehr als vier Jahrzehnten widerlegt worden ist, ist das BIP-Wachstum weiterhin das politische Ziel. [1]

«Was wollen wir gewesen sein?»

Empirisch wurde 1971 vom Ökonomen Easterlin nachgewiesen, dass nach Erreichen eines gewissen materiellen Wohlstands – in den westlichen Industriegesellschaften war das etwa in den 1970er Jahren der Fall – das individuell-subjektive Wohlbefinden nicht mehr ansteigt. Die Studienergebnisse werden dadurch gedeckt, dass dieses in westlichen Industriestaaten seitdem tatsächlich nicht mehr gewachsen ist – wohl aber ihr Energie- und Ressourcenverbrauch, der uns geradewegs in eine Klimakrise führte.

Wenn uns unsere Lebensweise mit dauerhaftem Konsum sowie mehr Stress im Privat- und Berufsleben nachweislich nicht glücklicher macht und gleichzeitig unsere Lebensgrundlage zerstört, warum ändern wir diese dann nicht?

Während sich manche Menschen – und das auch zurecht – über ihre Arbeit definieren, besteht der grundsätzliche Sinn der Lohnarbeit darin, die eigene Existenz zu sichern. Postwachstumsansätze plädieren dafür, die heute auf Vollzeitarbeitsstellen ausgerichtete Arbeitswelt so zu reformieren, dass mehr Menschen in Teilzeit (etwa 15 bis 25 Wochenarbeitsstunden) beschäftigt sein könnten, ohne dass sie dadurch Existenzangst haben müssten (und grundsätzlich sind viele – aber nicht alle – Stellen mit Teilzeit kompatibel). Auf politischer Ebene hätte dies den Vorzug, dass mehr Arbeitsplätze bereitgestellt würden.

Erreicht werden könnte eine solche Arbeitswelt durch ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), finanziert durch eine Finanztransaktionssteuer. Das BGE hätte zudem den Vorteil, dass gewisse, gesellschaftlich äusserst relevante Berufe, z.B. in der Reinigungswirtschaft, besser bezahlt würden, da niemand mehr finanziell darauf angewiesen wäre, diese Berufe auszuüben, weshalb die Löhne als Anreiz erhöht würden (dies setzt natürlich eine gewisse Höhe des BGE voraus). Bezieher*inner könnten sich freiwillig dazu entscheiden, ob sie ihr Einkommen durch Nebeneinkünfte verbessern oder ihre Zeit ehrenamtlichen Tätigkeiten widmen möchten, auf die unsere Gesellschaft heute bereits aufbaut und die so entlastet würden. Ausserdem ist zu erwarten, dass ein BGE gewisse Berufe, wozu viele heutige Stellen im Lifestyle- und Marketingsektor zählen, verschwinden lassen würde, deren einziges Ziel es ist, unsere bereits an Überkonsum leidende Gesellschaft zu noch mehr Konsum zu verleiten. Denn ohne finanziellen Druck würden mehr Menschen hinterfragen, welchen gesellschaftlichen Mehrwert ihre Jobs haben.

In der gewonnen Zeit können Menschen also anderen Tätigkeiten nachgehen, sich so selbst verwirklichen und/oder die Gemeinschaft unterstützen. Sie hätten mehr Zeit für soziale Kontakte. Zudem würde man auch viele Tätigkeiten, die heute marktwirtschaftlich geregelt sind, indem man sie «erwirbt», selbst übernehmen. Dazu zählt z.B. die Reparatur des eigenen Fahrrads, das bestenfalls noch mit Leihwerkzeug bearbeitet würde, wie sie die LeihBar in Bern bereits anbietet. Diese Veränderungen im Privat- und Arbeitsleben würden zur Schrumpfung gewisser Wirtschaftssektoren beitragen, die aktuell zu viele Ressourcen verbrauchen.

Postwachstum als demokratisches Grossprojekt

Eine Postwachstumsgesellschaft bedeutet keineswegs, dass sämtliche Wirtschaftssektoren schrumpfen würden: Bestimmte Bereiche, u.a. die Medizintechnik, sollten weiterhin wachsen. Es geht darum, dass das BIP westlicher Industriestaaten grundsätzlich schrumpfen muss, wir aber demokratisch definieren, welche Bereiche weiter wachsen «dürfen» – und welche nicht.

Ferner impliziert Postwachstum, dass auch die aktuelle kapitalistische Organisationsweise hinterfragt werden muss, die (zurzeit) ohne Wachstum nicht funktioniert. Doch angesichts naturwissenschaftlicher Fakten müssen wir einsehen, dass es radikaler Änderungen unseres Lebensmodells bedarf und wir Abstand nehmen müssen vom einseitigen, auf Materialismus fixierten Wohlstandsbegriff. Doch das ist keine schlechte Nachricht. Wenn wir Autos aus unseren Städten verbannen (wie es Oslo vormacht), hat das positive Folgen: Die Luftqualität und die Verkehrssicherheit nehmen zu, die Lärmbelastung nimmt ab. Werden wir das bereuen? 

Gleichzeitig steht ausser Frage, dass es bisher keine Blaupause gibt, wie eine Postwachstumswirtschaft genau aussehen würde. Bestimmte Gesellschaftsbereiche sind heutzutage grundlegend auf Wachstum aufgebaut, wie die umlagefinanzierte Rentenpolitik. Dieser «Locked-in-Effekt» verstellt uns die Sicht darüber, wie Rentenpolitik denn ohne Wachstum aussehen könnte.

Die heutige Gesellschaft ist geprägt von Visionslosigkeit und einem Zeitgeist, der sich die Zukunft wie die Gegenwart vorstellt. Dabei wird die Klimakrise zwangsläufig für Umbrüche sorgen. Die Frage ist also nur: «Transformation by design or by disaster?» Es liegt an uns, die Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft, die ökologische Grenzen achtet und das Wohlbefinden der Menschen in den Mittelpunkt stellt – und nicht die Grösse des BIP. Eine Zukunft ohne Wirtschaftswachstum, aber mit einer intakten Umwelt. In diesem Sinne: Wie wollen wir gelebt haben?

Leonard Creutzburg und Viktoria Cologna, Post-Growth Zürich

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