Interview mit Julia Steinberger

Was ist der Weltklimarat (IPCC), wofür steht erund was spielt erin der Klimadebatte für eine Rolle? Julia Steinberger, Mitverfasserin des sechsten Berichts, antwortet schriftlich auf Fragen rund um den Systemwandel, welche Aufgabe Wissenschaftler*innen in der heutigen Zeit wahrnehmen sollten und wieso Hoffnung irrelevant für die Erreichung eines Ziels ist, aber nötig, um menschlich zu sein.

Was ist Ihr Job als Mitverfasserin des sechsten Berichts des Weltklimarats?

Ich bin eine der Hauptverfasser*innen des 3. Kapitels über langfristige Reduzierungsmöglichkeiten des Klimawandels innerhalb der 3. Arbeitsgruppe. Es existieren zwei weitere Arbeitsgruppen: Eine behandelt die physikalische Wissenschaft des Klimawandels, die andere dessen Auswirkungen und Adaption. Jede Arbeitsgruppe besitzt zwei Vorsitzende, welche für den Gesamtprozess verantwortlich sind. Schlussendlich liefert jede Gruppe einen eigenen Bericht ab, wobei wir nicht neues Wissen kreieren, sondern bereits publizierte Forschungsergebnisse interpretieren und zusammenfassen. Für die Einzelteile sind zwei vorgeladenen Autor*innen verantwortlich, die wiederum ein Team von Hauptverfasser*innen sowie „mittragende Verfasser*innen“, die eher punktuell mitarbeiten, zur Verfügung haben.

Ich möchte hinzufügen, dass jede*r die Entwürfe der Berichte durchsehen kann. Der erste Verordnungsentwurf der 3. Arbeitsgruppe für den 6. Sachstandbericht wird Anfang 2020 vorliegen, und alle Interessierten sollten mithelfen, damit wir möglichst spannende Fragestellungen diskutieren. 

Was sollte die Rolle der Wissenschaftler*innen in der Klimadebatte sein?

Ich denke die Rolle der im Weltklimarat aktiven Wissenschaftler*innen ist eindeutig. Unsere Aufgabe besteht darin, die bestehende Fachliteratur so weit wie möglich abzudecken, sodass die Regierungen und die Zivilgesellschaft einen guten Überblick über den Stand der Wissenschaft besitzen.

Ich glaube jedoch, dass wir noch weitere Rollen übernehmen sollten. Nur weil ich eine Mitverfasserin des IPCC-Berichts bin, heisst dies noch lange nicht, dass ich nicht in meinem eigenen Namen sprechen kann. Es ist an der Zeit, dass Wissenschaftler*innen ihre Stimmen erheben, und die breite Öffentlichkeit informieren: Sie sollten Schulen und Arbeitsplätze besuchen, und sich aktiv mit Volksbewegungen, Aktivist*innen, Politiker*innen sowie der Zivilbevölkerung austauschen. Meiner Meinung nach haben Wissenschaftler*innen die Pflicht, die Jugendstreikbewegung, und andere Gruppierungen wie die „Extinction Rebellion“ zu unterstützen, indem sie radikale Massnahmen (z. B. den Klimanotstand) fordern, um Emissionen zu reduzieren und Leben zu schützen.

Waren Wissenschaftler*innen in der Vergangenheit zu vorsichtig, die Fakten auszusprechen?

Ich glaube nicht, dass es fair wäre, alle Wissenschaftler*innen in die gleiche Schublade zu stecken, da manche sehr freimütig und aktiv sind. Schlussendlich ist die freie Publikation von Forschungsergebnissen innerhalb des Weltklimrats der Grund, weshalb wir an diese Fakten gelangen. Ich weiss, dass manche misstrauisch gegenüber der statistischen Sicherheit sind, die benötigt wird, damit ein Resultat als erwiesen gilt, und dass Leute existieren, die behaupten, dass Wissenschaftler*innen die Beweise für katastrophale Klimaauswirkungen heimlich manipuliert hätten. Das ist falsch: Alle versuchen ihr Bestes, Beweise und Resultate zu veröffentlichen und die Menschen so aufmerksamer zu machen.

Denken Sie, dass es eine Lösung für die Klimakrise in einem kapitalistischen System geben kann? 

Ganz einfach: Nein. Dies ist übrigens mein wissenschaftliches Verständnis, kein politisches. Kapitalismus ist ein ökonomisches System, das von profitorientierten Firmen, strukturiert und bestimmt wird und von Natur aus auf der Ausbeutung von Mensch und Natur aufgebaut ist. Die stärksten Industrien und Technologien, die unser momentanes Wirtschaftssystem dominieren, sind fossile Brennstoffe und die Automobilindustrie. Sie treiben die Klimakrise an, und deshalb müssen wir eine soziale Entscheidung zwischen diesen zerstörerischen Industrien, ihren Produkten und einer anderen Wirtschaftsform treffen. Diese Wirtschaft wird nicht kapitalistisch sein.

Sie nennen sich eine Ökosozialistin. Was bedeutet das für Sie?

In der Tat nenne ich mich so. Doch mir ist wichtig, klarzustellen, dass das eine persönliche und nicht eine wissenschaftliche Position ist. Wissenschaftler*innen können und sollten politisch aktiv sein, aber es ist ziemlich elementar, diese Rollen zu trennen und bei der Unterscheidung transparent zu bleiben. Für mich bedeutet Ökosozialismus, dass ich eine Gesellschaft anstrebe, in der die Menschen auf die Befriedigung der Bedürfnisse anderer hinarbeiten, eine Gesellschaft, die egalitär ist, in welcher Konsum ausreichend aber nicht übermässig ist und die Umwelt nicht schädigt. Von unserer aktuellen Situation bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg. Für mich ist es entscheidend, dass wir Möglichkeiten finden, wie wir von unserer katastrophalen Ausgangslage zu einer besseren Zukunft gelangen.

Kinder schreien: „System change, not climate change“ auf den Strassen. Wie würde ein Systemwandel für Sie aussehen?

In meiner Perspektive bedeutet ein Systemwandel, eine Systemanalyse oder Systemdenken anzuwenden, daher die Ursachen und nicht die Nebeneffekte anzugehen. So geht es beispielsweise darum, die Unternehmen, welche Autos produzieren, anzusprechen, anstatt die Verbraucher*innen für das Fahren verantwortlich zu machen. Ein Systemwandel erfolgt, wenn die Grundursachen der Klima- und Umweltkrise verändert werden. Das sind Wirtschaftsstrukturen rund um das Streben nach Profit, Expansion, Wachstum und die Machtverhältnisse, die dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Unternehmen im Geschäft bleiben, und deren Besitzer*innen immer reicher werden. Je schneller wir verstehen, dass das Überleben der menschlichen Zivilisation die Konfrontation mit diesen Grundursachen und den darunterliegenden Strukturen benötigt, desto eher werden wir uns auf dem Weg zur Lösung dieser Existenzkrise befinden. Ich stimme der Forderung nach einem Systemwandel von ganzem Herzen zu.

Wie können wir diesen Systemwandel in die Realität umsetzen?

Mein heutiges Verständnis ist, dass die effektivsten Mechanismen zur Herbeiführung eines Systemwandels populäre Bewegungen (wie der Klimastreik und Extinction Rebellion) sind: Bewegungen, die zeigen, dass eine grosse Anzahl von Menschen die aktuelle Situation nicht einfach hinnehmen. Sobald Politiker*innen und Wirtschaftsführer*innen solche Massenbewegungen und ihre starken Forderungen sehen, werden sie gezwungen sein, gemäss den Forderungen zu handeln, beziehungsweise das Feld zu räumen. Die Volksbewegungen sind hier die Anführer*innen, weil Politiker*innen und Unternehmen (und eigentlich auch die akademische Welt) gezeigt haben, dass sie keine Veränderung herbeiführen, sondern diese verhindern.

Der letzte Sonderbericht des Weltklimarats zeigt, dass es sehr knapp werden wird, das 1.5°C-Ziel zu erreichen. Haben Sie noch Hoffnung, dass wir dieses Ziel erreichen werden?

Es ist irrelevant, ob ich hoffnungsvoll bin. Was wir jedoch zu tun haben, ist glasklar. Wir müssen die Emissionen (d. h. den Verbrauch von fossilen Brennstoffen) sofort reduzieren. Falls es uns rasch gelingt, könnten diese 1.5°C möglich sein. Wenn wir weniger Erfolg haben, haben wir trotzdem eine noch schlimmere Erwärmung verhindert. Dies ist die wichtigste Mission, die wir haben können, unabhängig davon, wie hoffnungsvoll oder verzweifelt wir wohl sein mögen.

Was verleiht Ihnen diese Hoffnung? 

Ich besitze Hoffnung, weil ich an die Möglichkeit einer sehr schnellen Veränderung glaube, und weil ich der Meinung bin, dass es den Menschen möglich ist, aussergewöhnliche Kämpfe zu gewinnen. Wir haben letztes Jahr in der öffentlichen Klimadebatte Veränderungen gesehen, die zuvor undenkbar gewesen wären. Im Moment läuft alles sehr schnell, es fühlt sich an als gäbe es plötzlich die Möglichkeit, radikale Veränderungen zu fordern, was zu diesem Zeitpunkt auch absolut notwendig ist.

Ich glaube, dass es unvertretbar und selbstgefällig ist, keine Hoffnung zu haben. Wir müssen für eine lebenswerte Zukunft füreinander kämpfen. Es existieren Menschen, die genau jetzt, aufgrund der Folgen des Klimawandels sterben, und wir müssen unser Allerbestes geben, dies in Zukunft zu verhindern. Zu sagen „Ich habe keine Hoffnung“ ist mit der Aussage „Von mir aus könnt ihr alle sterben, das geht mich nichts an“, gleichbedeutend. Es ist eine unhaltbare Stellungnahme. Menschlich zu sein und unsere Menschlichkeit zu behalten bedeutet, dass wir zumindest versuchen müssen zu helfen.

Jonas Kampus, 18 Jahre alt, Kantonsschüler

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