Wieso wir manchmal das Gesetz brechen müssen


Originaltext ist auf deutsch geschrieben.

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Non violent direct actions (NVDA) und ziviler Ungehorsam sind eng verknüpfte Aktionsformen, von denen unsere Bewegung lebt. Sie sind nicht unumstritten, doch inwiefern können sie uns weiterhin von Nutzen sein und welche Rolle spielt die Gewalt dabei?

Der zivile Ungehorsam setzt eine grundlegende Akzeptanz des Staates beziehungsweise der Regierung voraus; es soll nur auf bestimmte Regelungen oder Gesetze hingewiesen werden, welche die Aktivist*innen als ungerecht empfinden. Man handelt folglich nicht eigennützig, sondern will sich für das Gemeinwohl einsetzen [1]. Bei der Umsetzung wird zur Betonung der Dringlichkeit auf den bewussten Verstoss der rechtlichen Norm gesetzt. 

NVDA bedeutet ein unvermitteltes Eingreifen der Menschen in politische Zusammenhänge mithilfe von gewaltfreien direkten Aktionen [2]. Eine direkte Aktion kann gegen den Staat oder eine andere Institution gerichtet sein. Sie soll primär öffentliche Aufmerksamkeit erregen und den Konflikt so dramatisieren, dass über ihn und die Inkompetenz des herrschenden Systems zur Lösung desselben nicht länger hinweggesehen werden kann [3].

Unsere Form des Streiks ist das prominenteste Beispiel, doch es gibt noch andere Arten der NVDA und des zivilen Ungehorsams. In der Vergangenheit wurden schon Kreisel, Eingänge zu Banken und Privatjet-Terminals blockiert; Klimastreikaktivist*innen protestierten in einer Sitzung im Nationalratssaal, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen, und ebenfalls beim Bundeshaus legte sich Extinction Rebellion in ein symbolisches «Blutbad». All diese Aktionen haben gemeinsam, dass sie provozieren und Aufmerksamkeit erregen, die Medien stürzen sich mit Freude darauf. Aktionen dieser Art ziehen Blicke auf sich, die Passant*innen bleiben stehen, machen Fotos, fragen nach. So können wir unserem Ziel ein Stückchen näher kommen: Indem wir die breite Bevölkerung auf das Thema sensibilisieren und somit eine Veränderung auslösen. Wenn die Menschen in ihrem Alltag beeinträchtigt werden, indem sie nicht zur Arbeit gelangen oder in ihr Flugzeug einsteigen können, dann wird die Thematik auf die persönliche Ebene übertragen. Damit soll erreicht werden, dass sich jede*r mit der Thematik intensiv auseinandersetzt.

Manche Aktionen lösen aber auch Verärgerung bei den davon betroffenen Menschen aus. Dies kann insofern suboptimal für unsere Bewegung sein, als dass diese von potenziellen Verbündeten als negativ wahrgenommen wird. Hierbei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass die Unannehmlichkeiten, die bei Blockaden oder ähnlichem entstehen, nichts im Vergleich zu denen sind, welche in Zukunft mit Sicherheit auftreten – falls nicht sofort entsprechend dem ökologischen Notstand, in dem wir uns befinden, gehandelt wird. 

Doch es geht nicht nur um die Individuen. Es geht auch darum, dass die Besetzung von öffentlichen Institutionen im grossen Stil Druck auf die Regierung ausübt. Der entscheidende Faktor für viele ist, dass die Aktivist*innen stets ohne Gewalt agieren. Sobald es nicht mehr friedlich zu und her ginge, hätte einerseits die Polizei Grund dazu, vehement gegen die Proteste vorzugehen, andererseits trüge das Image des Klimastreiks erheblichen Schaden davon. 

Häufig wird ziviler Ungehorsam ebenfalls als absolut gewaltfrei definiert, aufgrund des «Zivilen» im Namen – zivilisiert als Synonym für gewaltfrei. Hier ist jedoch eine Differenzierung nötig, denn Gewalt ist ein äusserst breiter Begriff. Es steht ausser Frage, dass ausartende, unkontrollierte und willkürliche Gewalt nicht zu einem Akt des zivilen Ungehorsam gehört. Doch ist bewusst symbolisch eingesetzte Gewalt in kleinem Masse, beispielsweise die Beschädigung einer Bankfassade, pauschal und immer «schlecht» [4]?

Schon ohne Gewalt werden NVDA und ziviler Ungehorsam oft kritisiert: Der Rechtsstaat werde über Bord geworfen, die Aktionen werden immer extremer, heisst es. Doch nur weil eine Handlung gegen das Gesetz verstösst, heisst das nicht zwingend, dass sie moralisch verwerflich ist. Paradebeispiel dafür: Rosa Parks, die ebenfalls als gesetzwidrig klassifiziert wurde. Sie weigerte sich, ihren Sitz im Bus einem Weissen freizugeben – und wurde dafür verhaftet [5]. Rosa Parks’ Handlung wird, obwohl gesetzwidrig, als heroisch gefeiert. Denn die Bürgerrechtsbewegung trug massgeblich dazu bei, die gesetzlich legitimierte Situation der Ungerechtigkeit zu verbessern. Natürlich befinden wir uns heute in einer etwas anderen Situation, das Prinzip lässt sich jedoch ohne weiteres übertragen. Man darf das Gesetz brechen, um etwas Gutes zu erreichen. Darauf stellt sich die Frage, inwiefern «das Gute» definiert ist. In unserem Falle geht es aber nicht um ein subjektives Thema, bei dem zur Diskussion steht, ob es gut genug ist, um Gesetzesbrüche zu legitimieren. Es geht um wissenschaftliche Erkenntnisse; es geht ums Überleben. Wenn nicht dafür kämpfen, für was dann? 

Wie schon Brecht gesagt haben soll: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Zufriedene Menschen ergreifen nicht solch drastische Massnahmen und sind sogar bereit, sich dafür verhaften zu lassen. Ziviler Ungehorsam ist ein Akt der Verzweiflung – und wir sind verzweifelt. 

Fatima Arslantas, 17 Jahre jung, Kantonsschülerin, engagiert im Klimastreik Aargau. Mitglied in keiner Partei.

Fatima Arslantas, 17 Jahre jung, Kantonsschülerin, engagiert im Klimastreik Aargau. Mitglied in keiner Partei.

Quellen:

[1] https://www.br.de/nachrichten/kultur/wie-legitim-ist-der-zivile-ungehorsam-der-klima-aktivisten,RfXIl0k / Abruf 23.12.2019.

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Direkte_Aktion / Abruf 8.12.2019.

[3] https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/011382.html / Abruf 22.12.2019.

[4] http://cw.routledge.com/textbooks/alevelphilosophy/data/AS/WhyShouldIBeGoverned/Civildisobedience.pdf / Abruf 22.12.2019.

[5] https://www.britannica.com/biography/Rosa-Parks / Abruf 9.12.2019.

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